Mehr als eine Krankheit – COVID-19 bringt die Indigenen in Russlands Norden in Existenznot

Das COVID 19-Virus hat in den indigenen Gebieten Russlands relativ leichtes Spiel: Die Reformen des staatlichen Gesundheitssystems der vergangenen 15 Jahre führten insbesondere hier zur Schließung vieler kleinerer medizinischer Versorgungseinrichtungen. Das schon zuvor unterfinanzierte Gesundheitssystem Russlands war auf den Beginn der Corona Pandemie Ende März 2020 schlecht vorbereitet. Es fehlte an Basisversorgung mit Masken, Handschuhen und Intensivbetten. Das Pflegepersonal ist selbst nur unzureichend geschützt und unterbezahlt.

Von Yvonne Bangert, Referentin für indigene Völker; Foto: GfbV-Archiv


Durch die enorme Ausdehnung der russischen Arktis, Sibiriens und des Fernen Ostens dauerte es einige Zeit, bis sich das Virus in der Fläche ausgebreitet hatte. Weitergetragen wurde es in erster Linie durch die Arbeiter der Öl-, Gas- und anderer Rohstoffunternehmen. Die Regierung schickte Feldhospitäler, die in der Verantwortung des Verteidigungsministeriums und des Ministeriums für Notfälle stehen, unter anderem nach Zabaikalsk, Krasnoyarsk und Murmansk. Doch die Bautrupps, die diese Hospitäler errichteten, verschleppten das Virus aus anderen Gegenden Russlands bis in den letzten Winkel der abgeschiedenen indigenen Gebiete. So geht der Massenausbruch von Corona auf Kamtschatka von diesen Bautrupps für Militärhospitäler aus. Die Arbeiterwohncamps der Öl- und Gasindustrie wurden Brutstätten für das Virus. Am 11. Mai 2020 wurden von den insgesamt 2,416 im Gebiet Murmansk infizierten Menschen allein 2045 im Camp des Flüssiggas-Werkes (LNG) des Novatek-Konzerns bei Belokamenka registriert. Stark betroffen waren auch die Camps des Goldunternehmens Polus nahe der Ortschaft Eruda im Bezirk Krasnoyarsk, das LNG-Projekt von Novatek in Sabetta in der Region Yamal, das Gasprojekt Chayanda von Gazprom in der Republik Yakutien und auch die Schichtarbeiter der Fischereiindustrie auf der Kamtschatk – Halbinsel.


Die Unternehmen unterbrachen zwar die Verkehrswege zwischen den Camps und benachbarten indigenen Siedlungen und untersagten den Zutritt, stellten aber die Arbeiten nicht ein. Eine Quarantäne wurde nicht verhängt. Das Virus verbreitete sich daher weiter. Anfang April wurde der erste COVID-19-Fall in dem abgelegenen Dorf Yrban, Bezirk Todzin, Republik Tyva bekannt, wo die Topdzhin-Tuwiner als Jäger und Rentierhalter leben. Ein Tourist, der zuvor in der Region Moskau gewesen war, kam ins Dorf um zu fischen und infizierte die gesamte achtköpfige Familie seiner Gastgeber. 870 km entfernt von Khabarovsk im Fernen Osten Russlands liegt das 3000-Seelen-Dorf Bogorodskoye, Zentrum des Verwaltungsbezirks der Ulchen, die traditionell vom Lachsfang im Amur und von der Jagd leben. Auch hier wurden Anfang April die ersten COVID-19 – Fälle verzeichnet. Ausgangspunkt war das Hospital der Gemeinde. Lokalen Medien zufolge erkrankten mindestens 146 Menschen, drei starben, darunter ein Mitglied des Pflegepersonals. Das Dorf wurde für mehrere Wochen geschlossen und unter Quarantäne gestellt. Alle öffentlichen Flächen wurden desinfiziert. Die Bewohner*innen der Nachbardörfer wurden jedoch nicht getestet. Mitte Mai wurde auch die Quarantäne wieder aufgehoben.

Anfang Juli meldete der Autonome Kreis Yamal einen Covid-19-Fall unter den Rentierhirt*innen in der Tundra. Alle, die mit der erkrankten Person in Berührung kamen, wurden im regionalen Hauptort Salechard isoliert und in einem Krankenhaus unter Quarantäne gestellt. Ein Mitglied des Pflegepersonals berichtete, schon Mitte Mai von einem Kollegen angesteckt worden zu sein, der an der Novatek – Gasförderstätte Sabetta während des dortigen Covid-Ausbruches Analysen durchgeführt hatte. Das Labor zur Feststellung von Infektionen würde während COVID-19 Testungen keine angemessenen Sicherheitsvorkehrungen treffen und die Testergebnisse verfälschen, um das Ausmaß der Verbreitung des Virus in Yamal zu verschleiern. Bei den Indigenen lebt oft die gesamte Familie mit mehreren Generationen unter einem Dach, sodass sich das Virus leicht ausbreiten kann. Die Alten sind ganz besonders gefährdet. Die meisten indigenen Gruppen sind zahlenmäßig sehr klein und es gibt nur wenige Älteste, die noch die eigene Sprache beherrschen. Ihr Verlust kann das Verschwinden einer ganzen Kultur zur Folge haben. Dies droht zum Beispiel den Itelmenen von Kamtschatka.

COVID-19 VERÄNDERT DAS GESAMTE LEBEN DER INDIGENEN

Nomadisierende Rentierhirt*innen leiden unter den CORONA-Maßnahmen sehr viel stärker als die übrige Bevölkerung. Normalerweise suchen sie zum Beispiel auf Yamal während der Frühjahreswanderungen Städte und größeren Siedlungen auf, um sich dort mit Nahrungsmitteln und anderen wichtigen Gebrauchsgütern, auch Medikamenten, zu versorgen, bevor sie zu den Sommerweiden im Norden weiterziehen. In diesem Jahr untersagten die lokalen Behörden ihnen jedoch das Betreten dieser Orte.

Die Indigenen haben Kontakt zu den Arbeitern der Öl-und Gasindustrie und man hatte Angst, dass sie das Virus weitertragen würden. Am „Tag der Rentierhirten“ (Den Olenevoda) im Frühjahr kommen die Indigenen jedes Jahr in die städtischen Zentren, um Vorräte zu kaufen und eigene Produkte wie Fisch oder Rentierfleisch zu verkaufen. Dieser Feiertag wurde ebenfalls abgesagt. Die Rentierhirt*innen konnten keinen Handel treiben, sodass bei vielen schon Versorgungsmangel herrscht. Die Tourist*innen, die sonst nach Kamtschatka oder nach Khanty-Mansiiysk kommen, blieben in diesem Frühjahr aus. Damit ist eine weitere Einnahmequelle der Indigenen infrage gestellt. Sie drohen, noch tiefer in die wirtschaftliche Isolation abzugleiten. Einige Jäger und Fischer haben berichtet, dass sie wegen der Quarantäneregeln ihre Jagd-und Fischgründe in anderen Gemeinden nicht aufsuchen dürfen. Von den staatlichen Nothilfen profitieren Indigene wenig, denn sie haben kaum Zugang zu den notwendigen Informationen. Außerdem arbeiten die meisten indigenen Männer in der traditionellen Wirtschaft außerhalb der Siedlungen als Jäger, Fischer und Rentierhalter und sind nicht angestellt beim Staat. Sie haben daher auch keinen Anspruch auf Arbeitslosengeld oder irgendeine andere staatliche Hilfe. Solche Ansprüche haben wenn überhaupt die Frauen, die in Kindergärten, Schulen, der Gemeindeverwaltung oder medizinischen Einrichtungen arbeiten.

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DIE ROHSTOFFINDUSTRIE SPALTET DIE INDIGENEN

Quarantänemaßnahmen werden in Russland von oben herab verkündet ohne Rücksicht auf die Folgen für die nomadischen Indigenen. Das wird auch an der Schulsituation deutlich. In den abgelegenen indigenen Gebieten gibt es nur begrenzt oder gar keinen Zugang zum Internet und kaum Computer oder Erfahrung im Umgang damit. Manche dank Öl und Gas wohlhabende Regionen wie Yamal, wo Nenzen leben, können jeden Schüler mit einem Laptop ausrüsten. In anderen müssen sie in die Schulen kommen, um sich dort das auf Papier gedruckte Unterrichtsmaterial zu holen. In einer vergleichsweise wohlhabenden Region wie Yamal erhalten die Menschen eine mit westlichen Standards vergleichbare Notversorgung. Die örtlichen Behörden unterstützen abgelegene Dörfer mit Nahrung und anderen Dingen des täglichen Bedarfs und helfen örtlichen Rentierhaltern finanziell. Außerdem gaben sie Subventionen an die im Tourismus engagierten indigenen Gemeinden. Auswärtige Tourist*innen kommen zurzeit nicht. Nun können sie für russische Tourist*innen Alternativprogramme gestalten. Ehrenamtliche veröffentlichten ein Flugblatt über die Gefahren des Virus und Vorbeugemaßnahmen in der Sprache der Nenzen. Ähnlich reagierten auch die Behörden in Kamtschatka. Im Khabarovsk Krai und auf Kamtschatka reagierte man mit der Entsendung von medizinischen Nothelfer*innen in die abgelegenen indigenen Siedlungen.

In der ärmeren Republik Karelien, wo die Wepsen leben, fällt die Hilfe viel bescheidener aus. Der Riss in der indigenen Bevölkerung wird tiefer. Die Bundesbehörde für ethnische Angelegenheiten (FAEF) stellte fest, dass die Situation für einzelne Individuen, aber ebenso für ganze ethnische Gruppen existenzgefährdend sei. Die Regionalbehörden wurden aufgerufen, den Kontakt zu den abgelegenen indigenen Gemeinden zu halten, ihren Gesundheitszustand und ihren Zugang zu Grundversorgung mit Lebensmitteln, sowie den Zugang zu öffentlichen Dienstleistungen einschließlich Medizin und Home Schooling zu überwachen. Russland bereitet ferner einen Bericht vor für den Arktischen Rat über die möglichen Schwierigkeiten für indigene Völker, die angesichts ihrer Isolation im Hohen Norden und ihrer fehlenden Abwehrkräfte besonders stark unter dem Virus leiden könnten.

Gleichzeitig nutzten manche Verwaltungen die Lage zum eigenen Vorteil aus, ohne dabei die Interessen der Indigenen auch nur im Mindesten zu berücksichtigen. Mitte Mai zum Beispiel unterzeichneten der Öl-reiche Autonome Bezirk der Nenzen und der wirtschaftlich schwache Bezirk Archangelsk ein Abkommen, ihre beiden Gebiete zusammenzulegen. Sie begründeten diesen Schritt mit den angesichts von COVID-19 fallenden Ölpreisen. Nur ihr Zusammenschluss könne die örtliche Wirtschaft retten. Die Nenzen wurden an dieser Entscheidung ebensowenig beteiligt wie andere in der Region lebende Indigene.

FAZIT

Zu Beginn der Pandemie war die Abgelegenheit der indigenen Territorien ein Vorteil.

Als mit der zweiten Welle das Virus auch hier ankam, wendete sich dies zu einem Nachteil, denn die Abgeschlossenheit der Siedlungen begünstigte nun die Verbreitung des Virus innerhalb der einzelnen Gemeinschaften. Da die indigenen Gemeinschaften jedoch nicht auf ewig isoliert bleiben können, sollte die Regierung schleunigst ein Maßnahmenpaket schnüren, um das Gesundheitswesen in den indigenen Gebieten zu stärken und die medizinischen Einrichtungen in den abgelegenen ländlichen Regionen nach den modernen Maßstäben der Krankheitsvorsorge wiederaufzubauen. Auch in die Maßnahmen zum Wiederaufbau des Wirtschaftswesens sollten die Indigenen eingeschlossen werden. Bei dem gemeinsamen Aufbau solcher Strategien muss dem Prinzip der freien informierten vorherigen Zustimmung der indigenen gefolgt werden. Der Staat muss die dafür notwendigen Informationen zur Verfügung stellen und angemessene, fristgerechte und genaue Informationen zur Verfügung stellen.

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