Die Situation der Indigenen in Brasilien ist prekär: Sie sind nicht nur durch die Pandemie stärker gefährdet als andere Bevölkerungsgruppen, stattdessen sind sie auch durch die indigenenfeindliche Regierung unter Jair Bolsanaro unter schwerem Beschuss. Holzfäller, Goldgräber und Rinderzüchter fühlen sich durch die Regierung ermutigt, weiter in indigene Gebiete vorzudringen. Neben der Zerstörung des indigenen Lebensraums bringen diese Eindringlinge auch das Covid-19 Virus zu den Indigenen, die sich in Selbstisolation zurückgezogen haben.
Von Juliana Miyazaki, Referentin für Indigene Völker; Foto: Romerito Pontes, Flickr
Es ist unerlässlich, die Eindringlinge durch eine wirksame Politik aus den indigenen Gebieten zu entfernen und weitere Invasionen zu verhindern. Durch die Pandemie wird der institutionelle Rassismus gegenüber den Indigenen erneut deutlich. Der Zugang zu einer Gesundheitsversorgung wird erschwert, es herrscht Mangel an allem, die für die Indigenen zur Verfügung gestellten öffentlichen Mittel werden durch die Behörden nicht zur Verfügung gestellt.
Nicht zum ersten Mal bedroht eine von Weißen eingeschleppte Krankheit die Indigenen. Ihr Immunsystem kann sich schlecht dagegen wehren. Masern, Pocken, Keuchhusten oder die Grippe haben schon viele Leben gekostet. Erschwert werden Präventionsmaßnahmen gegen solche Infektionskrankheiten durch das Leben in Großfamilien und den engen sozialen Zusammenhalt. Gleichzeitig fehlt es oft an sauberem Trinkwasser und an sanitärer Infrastruktur. Außerdem leben viele indigene Gemeinschaften in abgelegenen Orten, die Stunden oder Tage entfernt von einem Krankenhaus liegen.
Dazu kommt die allgemeine schlechte Nahrungsmittel- und Gesundheitsversorgung durch das Versagen der Regierungsbehörden. Hygieneartikel und Covid-19-Tests sind knapp und Krankenhäuser sind überlastet. Trotz des hohen Ansteckungsrisikos müssen Indigene in die Stadt reisen, um das geringe Corona-Unterstützungsgeld von der Bank zu holen und im Supermarkt einzukaufen. Viele sind außerdem auf das geringe Einkommen angewiesen, das sie in der Stadt durch informelle Jobs oder den Verkauf von Kunsthandwerk erwirtschaften können. Außerdem versuchen die Behörden, die gravierenden Auswirkungen der Pandemie auf die indigenen Völker zu vertuschen. Der Dachverband der indigenen Organisationen Brasiliens APIB berichtet über 40 infizierte Völker, 537 Infizierte und 102 Todesopfer. Die offizielle Behörde zählt allerdings nur 371 Infizierte und 23 Todesfälle. Indigene in den Städten würden nicht als solche gezählt. Das betrifft etwa die Hälfte aller Indigenen im Land.
Indigener Widerstand
Da von den offiziellen Behörden dieser indigenenfeindlichen Regierung keine Unterstützung gegen Covid-19 erwartet werden kann, organisieren sich die Indigenen selber. In Online-Treffen werden Netzwerke und Arbeitsgruppen gebildet. So erfassen die Indigenen zum Beispiel selbst statistische Daten zu den Covid-Fällen innerhalb der Gemeinschaften, bereiten Infomaterial auf indigenen Sprachen über Präventionsmaßnahmen vor und verbreiten diese. Sie organisieren eine Grundversorgung mit Nahrungsmitteln, Hygieneartikel und Medikamenten und schützen die Gemeinschaften durch sanitäre Barrieren. Außerdem organisiert sich innerhalb dieser Netzwerke ein juristischer Widerstand gegen die Missachtung der Verfassung.
Rauchwolke, Militär, Landraub
Durch den aktuellen gesundheitlichen Notstand entsteht für Bolsonaro und seine Anhänger die optimale Rauchwolke, in der sie sich ungestört ihrem Ziel nähern können, die für den Schutz der indigenen Territorien zuständigen offiziellen Behörden zu entmachten und zu instrumentalisieren. Die bereits ungenügende staatliche Kontrolle von illegalen Aktivitäten ist wegen der Pandemie zum Erliegen gekommen.
Laut dem Nationalen Institut für Weltraumforschung (INPE) hat sich die Entwaldung auf indigenen Gebieten für den Zeitraum von Januar bis April im Vergleich zum letzten Jahr um 59 Prozent erhöht . Bergbauaktivitäten auf indigenen Gebieten haben sich um 45 Prozent erhöht . Die offiziellen Anträge für Bergbau in indigenen Territorien sind unter Bolsonaro um 91 Prozent gestiegen . Zurzeit befinden sich über 20.000 Goldgräber allein im Territorium der Yanomami. Laut einer Studie des ISA (Instituto Socio-Ambiental) könnte ein einziger Eindringling 1.600 Indigenen anstecken.
Die Umwelt- und Indigenenschutzbehörden in Brasilien werden durch ein neues Dekret von Bolsonaro den militärischen Streitkräften untergeordnet, das ihren Einsatz auf indigenem Land und in Naturschutzgebieten im Amazonasgebiet genehmigte. Es autorisiert den Einsatz von Militär für präventive und repressive Aktionen gegen Umweltverbrechen, wie illegale Abholzung und Waldbrände. Was scheinbar gut klingt, sorgt allerdings bei vielen für Bedenken. Schon in seinem Wahlkampf hat Bolsanaro das Vorgehen der Inspektoren der technischen Behörden IBAMA und ICMBio heftig angegriffen. Es besteht die Befürchtung, dass diese technischen Behörden von der Leitung der Einsätze ausgeschlossen werden und so noch mehr an Einfluss verlieren.
Es wird demnächst über den Gesetzentwurf PL 2633/2020, früher bekannt als „MP da Grilagem“ (einstweiligen Verfügung des Landraubs), im brasilianischen Kongress im Eilverfahren abgestimmt . Dieses Gesetz würde die Amnestie für die unrechtmäßig Besetzung und illegale Abholzung öffentlichen Landes ermöglichen , zu dem über 700 indigene Gebiete gehören. Der Gesetzentwurf vertritt die Interessen von Großgrundbesitzern, die sich öffentliches Land illegal aneignen, abholzen, selbst kartieren und wirtschaftlich nutzen wollen. Landkonflikte für die Indigenen werden zunehmen und mit jeder Invasion steigt das Risiko, dass das Virus in die indigenen Gemeinschaften verbreitet wird.
Fatal wäre dieses Gesetz in Kombination mit der im April dieses Jahres von der Indigenenschutzbehörde (FUNAI) herausgegebene Norm 9/2020. Sie legt fest, dass nur durch ein Dekret vom Präsident bestätigte indigene Gebiete (áreas homologadas) auch offiziell als indigene Gebiete anerkannt werden. 237 indigene Gebiete befinden sich noch im langwierigen Prozess der Anerkennung und könnten jetzt durch diese Norm für den privaten Grundbesitz freigegeben werden.
Die brasilianische Staatsanwaltschaft hat gegen die Norm 9/2020 aufgrund der Illegalität, Unangemessenheit und Verfassungswidrigkeit geklagt . Artikel 231 der brasilianischen Verfassung erkennt das Recht der indigenen Völker auf den Besitz des von ihnen traditionell besetzten Landes an.
Aus demselben Grund ist die nun vorläufig vom Minister des Obersten Gerichtshofs (STF) Edson Fachin ausgesetzte Exekutiv-Anordnung 001/2017 des Generalbundesanwalts (AGU) verfassungswidrig. Die unter der Regierung von Michel Temer im Jahr 2017 eingerichtete Anordnung machte es unmöglich einen Großteil der Gebiete den Indigenen zuzuteilen. Diese Anordnung wurde von Bolsonaro benutzt, um Demarkation zu verzögern oder rückgängig zu machen. Bald wird die Entscheidung gefällt, ob diese vorläufige Entscheidung auch vom Plenum des STFs bestätigt wird.
Gesetze alleine reichen aber nicht: Auch wenn die Aussetzung der Exekutiv-Anordnung ein erster Schritt in die richtige Richtung ist, bringt nur Respekt und die Umsetzung der Gesetze auch mehr Gerechtigkeit für die Indigenen.