Türkei: Heilige Orte fördern Zusammenhalt in Dersim

An einem Tag wie heute im Jahre 1937 ließen die Machthaber der Türkei den Anführer der alevitischen Kurden in Dersim hinrichten. Es war der Beginn eines Massakers, bei dem über 70.000 Menschen, darunter Frauen, Kinder und Ältere, getötet wurden. Das Trauma sitzt bis heute tief bei den Nachfahren aus Dersim. Benjamin Raßbach und Miriam Stanke haben diese vor Ort besucht.

von Benjamin Raßbach und Miriam Stanke; Foto: Miriam Stanke

An der Passstraße, die die Provinzen Ovacik und Pülümür in der ostanatolischen Region Dersim miteinander verbindet, lebt Zeliha, die Enkelin von Seyit Rıza. Den Namen ihres Großvaters kennt in Dersim jedes Kind. Und auch den Kurden in der gesamten Türkei ist er geläufig. Seyit Rıza war einer der wichtigsten Anführer des Widerstands gegen Unterdrückung und Diskriminierung durch den osmanischen bzw. türkischen Staat. Er wurde 1937 gefangen genommen und gehängt. Zeliha hat das kleine Holzhaus wieder aufgebaut, das ihrem anderen Großvater gehörte. Die Dörfer in der Umgebung wurden schon vor Jahren von der Armee geräumt und so verbringt sie den Sommer nur in Gesellschaft einiger wandernder Imker und Hirten, die hin und wieder auf einen Tee vorbeikommen. Im oberen Stockwerk steht ein uraltes Gewehr, mit dem sie sich verteidigen kann, wenn es nötig ist; an der Wand hängt ein Bild von Seyit Rıza, einem bärtigen Alten mit funkelnden Augen. Sie könnte hier noch einige Flüchtlinge aus dem nordsyrischen Kobani aufnehmen, sagt sie. Platz finde sich dann schon.

In Dersim, einer gebirgigen Landschaft im nördlichen Türkisch-Kurdistan, werden alte religiöse Traditionen noch immer gepflegt. Bis die türkische Armee dort die lokalen Stammessysteme zerschlug und beim Massaker von Dersim 1937/38 zehntausende Aleviten tötete, hatte es nie eine zentralisierte Herrschaft vermocht, die Gegend zu kontrollieren. Denn die zerklüfteten Berge mit ihren vielen Höhlen boten viele Verstecke und waren leicht zu verteidigen. Bis ins 20. Jahrhundert hinein waren die Einwohner von Dersim kaum in Kontakt mit anderen Gemeinschaften getreten, schon gar nicht mit denen der mehr und mehr europäisch geprägten Machtzentren in Istanbul und Ankara. Dafür gab es Gründe. Eine lange Geschichte der Verfolgung und Unterdrückung religiöser Minderheiten im Osmanischen Reich hatte Dersim zum letzten Rückzugsgebiet der kurdischen Aleviten und der armenischen Christen werden lassen.

Zeliha, die Enkelin des berühmten kurdischen Widerstandskämpfers von Dersim, Seyit Rıza, strahlt großes Selbstbewusstsein aus. Bei den Aleviten gelten Mann und Frau als gleichberechtigt. Die Geschlechtertrennung ist weniger streng als in anderen Gegenden der Türkei.

Foto: Miriam Stanke

Die „Rotköpfe“ brachten das Alevitentum

Die alevitische Religion ist eine besondere Form des schiitischen Islams, der Anfang des 16. Jahrhunderts zur Staatsreligion des Safawidenreiches in Persien wurde. Die Kämpfer des Ordens der Safawiden, die dies durchsetzten, waren für ihre roten Kopfbedeckungen bekannt und wurden deshalb „Kızılbaş“, „Rotköpfe“, genannt. Missionare und Armeen brachten ihren Glauben nach Anatolien. Immer wieder kamen auch wandernde Sufi-Mystiker aus dem Osten der islamischen Welt hierher, besonders aus Khorassan (dem nordöstlichen Persien), um ihre auch von Schamanismus, Zoroastrismus und Buddhismus geprägte Lehre zu verbreiten. Sie wurden zu spirituellen Führern und politischen Ideologen von Aufständen gegen die Osmanen. Die ‘kurdischen Aleviten’, deren Kernland Dersim noch immer ist, sind wohl am stärksten von diesen Einflüssen geprägt. Viele von ihnen sehen bis heute ihren ‘Ursprung’ in Khorassan.


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Statt der Moschee nutzen Aleviten „Versammlungshäuser“, die Cem Evis, als Ritualzentren. Die Gläubigen beten dort nicht, sondern praktizieren hier den Cem, der viele Rituale des mystischen Islam umfasst – wie zum Beispiel Rezitationen von Poesie, rhythmischen Gesang und ekstatischen Tanz. In Dersim wurden aber gleichzeitig auch die Sonne und der Mond verehrt. Die Menschen küssten die Stelle in ihrem Haus oder Garten, die die Sonnenstrahlen am Morgen als erstes berührten.

Traditionsgemäß besuchen Aleviten auch Ziyarets, heilige Plätze in der Landschaft. Diese besonderen Orte in der Natur sind für sie mit einer Legende verbunden und dadurch für die Gemeinschaft bedeutsam und identitätsstiftend. Der wichtigste heilige ‘Ort’ ist der Munzur-Fluss, der eines der großen Täler Dersims bildet. Zu seinen Quellen pilgern Aleviten aus der ganzen Region wie auch zu dem Berg Sultan Baba oder einigen anderen wichtigen Stätten. Zudem gibt es in jedem Tal Quellen, Felsen und alte Bäume, die meist nur in den umliegenden Dörfern bekannt sind und deren Legenden nur dort erzählt werden. Auf diese Weise wird Mekka, als der zentrale Wallfahrtsort der Muslime, ersetzt von einer Vielzahl heiliger Orte, die die Dersimer gleichzeitig mit ihrer Heimatlandschaft verbinden. Doch seit Jahrzehnten geht die Bevölkerungszahl zurück. Hier leben etwa 100.000 alevitische Kurden und inzwischen auch viele sunnitische Türken, vor allem Armeeangehörige und andere Staatsbedienstete. Viele Aleviten in Dersim bezeichnen sich nur als Zaz. Hier wird vor allem Zaza gesprochen. In der Türkei gibt es neben kurdischen auch viele türkische und arabische Aleviten. Ihre Anzahl wird dort insgesamt auf bis zu 15 Millionen geschätzt.

Die Bewohner dieses Hauses in der Region Dersim werden gut beschützt.

Foto: Miriam Stanke

Frauen sind gleichberechtigt

Besonders ist auch die Rolle der Frauen in Dersim. Traditionell gelten Mann und Frau als gleichberechtigt. Jüngere alevitische Frauen tragen meist weder Schleier noch Kopftuch und die Geschlechtertrennung ist weniger streng als in anderen Gegenden der Türkei. So zelebrieren Frauen und Männer auch den Cem gemeinsam – im Unterschied zum Gebet des sunnitischen Islam. Die Gleichberechtigung ist ein wichtiges Element der alevitischen Kultur und wird von klein auf gelehrt. Dies beinhaltet auch einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung und Beruf. Obwohl sich die patriarchalischen Strukturen immer noch häufig in der Verteilung traditioneller Geschlechterrollen wiederfinden, besonders in der Ehe, so ist doch ein starkes Selbstbewusstsein der Frauen zu beobachten. Viele entscheiden sich bewusst gegen eine frühe Heirat.

Seit den 1970er Jahren ist Dersim auch ein Zentrum linker, politischer Bewegungen. Deshalb drückt sich seine Kultur- und Religionsgeschichte, mit ihrer Vielfalt und gleichzeitigen Isoliertheit, heute nicht mehr nur in besonderen Gebeten, Ritualen oder gesellschaftlichen Strukturen aus. Sie ist auch zu spüren in den politischen Bestrebungen nach lokaler Autonomie, in der Gleichberechtigung verschiedener Teile der Gesellschaft sowie der Herausbildung einer eigenen Identität. Der türkische Staat steuert dieser Entwicklung argwöhnisch entgegen. So wurden die Lebensbedingungen in Dersim gezielt verschlechtert: Dörfer wurden zerstört und nicht wieder aufgebaut, Waldbrände nicht gelöscht. Jetzt befürchten viele Dersimer, dass die geplante  Errichtung von Staudämmen am Munzur ihre Region zerstören soll.


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Mehr zu den Aleviten und der Region:

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[Zu den Autoren]

BENJAMIN RAßBACH kommt aus Leipzig und ist Religionsanthropologe. Gemeinsam mit der Heidelberger Fotografin MIRIAM STANKE hielt er sich im Sommer 2014 mehrere Monate in Dersim auf, um das Leben der dort ansässigen Aleviten zu dokumentieren. Hierbei entstanden sind die Bildserie And the Mountain said to Munzur: You, River of my Tears sowie mehrere Texte über Dersim und dessen Bewohner.

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