„Liebste Heimat, sie nehmen dich mir weg“

Die Türkei hat eins ihrer wohl bewegendsten Wochenenden hinter sich. Ein versuchter Militärputsch und Ausschreitungen forderten dabei leider auch Todesopfer; Angst und Unsicherheit prägen momentan den Alltag. Vor allem Aleviten und Angehörige anderer Minderheit in der Türkei sorgen sich vor einer stetigen Islamisierung ihres Landes. Eine von ihnen ist Eda Pekinsoy, eine in Deutschland geborene Alevitin mit Familie in der Türkei. In einem Brief an ihre Heimat beschreibt sie ihre Gefühle und spricht dabei vielen Aleviten aus dem Herzen.

von Eda Pekinsoy; Foto: privat

Hallo Heimat.

Ich frage mich, gibt’s dich noch? Ich fühle mich so leer, so unbeholfen und ausgesetzt. Den hungrigen Wölfen ausgesetzt, die unsere Verzweiflung ausnutzen.

Weißt du noch, als ich dich das erste Mal besuchte und ganz verrückt nach dir war? Der Geruch während des Bazar-Besuches, die verschiedenen Kräuter, laute, selbstbewusste und unbekümmerte Rufe der Verkäufer/Innen. Alle handelten bis zum Abwinken und ich fand es so unheimlich amüsant. Die Blicke der weisen alten Frauen, die so viel ausstrahlten, während sie ihren schwarzen, wunderbar riechenden Tee tranken. Die Wärme und Herzlichkeit der Menschen, die ich damals in dieser Form noch nicht gekannt hatte.

Doch ich war jung. Viel zu jung, um zu verstehen, dass vieles davon Schein war. Und heute noch ist.

Sonnenuntergang im Stadtteil Beyoglu in Istanbul. Minderheiten befürchten, dass sich auch ihre Zukunft in der Türkei verdunkeln wird.

Foto: Foundry via pixabay

Als ich um die 14 war, wollte ich während der Fußballzeit eine Flagge aufhängen. Welche war mir dabei egal. Sie sollte einfach mein Zimmer schmücken. Zu dieser Zeit hatte ich in der Schule fast nur Ausländer als Freunde. Also für mich Ausländer, es waren weder Türken, noch Kurden, sondern Deutsche. Aus der Ferne beobachtete ich diesen Zusammenhalt der Kinder, wie sie stolz über unsere gemeinsame Heimat redeten. Das wollte ich auch. Als ich nach Hause kam, wollte ich meinen Plan in die Tat umsetzen. Doch meine Eltern erlaubten es mir nicht. Nicht, will sie ihre eigene Heimat verleugneten, im Gegenteil. Das Erste, was sie mich gefragt haben, war jedoch, ob ich die Bedeutung einer Flagge kannte. Und ich sagte nein. Ich wusste nur, dass sie ein Land repräsentiert. Dann fragten sie mich, ob ich Ahnung von Fußball hätte. Und ich musste wieder mit nein antworten. Ich wusste damals nicht mal, wer in der Mannschaft spielt, geschweige denn was Abseits genau bedeutet. Dann gab ich zu, dass ich mich einfach nur anpassen wollte. Nicht mehr und nicht weniger. Zuletzt sagten sie mir etwas, was ich niemals vergessen werde:

Deine Heimat kann dir nicht genommen werden Eda, sie steckt in deinem Herzen. Sie kann hier in Deutschland sein, in Kurdistan oder in der Türkei. Es spielt keine Rolle, solange du dich selbst nicht in ihr verlierst. Ich verstand nicht so recht, was sie mit dem Wort „verlieren“ meinten. Schließlich war es doch etwas Schönes, sich dazu gehörig zu fühlen, gemeinsam auf die Straßen zu gehen und ein Teil von etwas gefühlt ganz Großem zu sein.

2015. Es stand wieder der Besuch meiner Familie in der Türkei an. Ich war unheimlich aufgeregt, hatte dich vermisst, liebste Heimat. Wollte mit meinen 22 Jahren wieder unbeschwert auf deine vollen Straßen gehen, die Sonnenstrahlen genießen, Sonnenblumenkerne kaufen, die wild rumlaufenden Tiere füttern und ein Eis nach dem anderen verschlingen. Ich wollte wieder zum unbeschwerten Kind werden, zumindest für diese Zeit. An einem deiner türkischen Flughäfen angekommen, wurde ich sehr kritisch beobachtet. Umso mehr ich die paar Angestellten dort anlächelte, desto mehr Feindschaft spürte ich in deren Augen. Was hatte ich getan? Zu dieser Zeit gab es bereits erhebliche Unruhen, dessen war ich mir bewusst. Dann fiel mir endlich ein, dass ich meine Kette mit dem relativ großen alevitischen Zeichen um hatte. Dann musste ich noch mehr lächeln und trottete selbstbewusst und mit einem Stückweit gesundem Stolz davon.

Die Tage bei dir verliefen dieses Mal jedoch nicht gut. Ein Todesfall nach dem anderen. So viele Menschen starben, so viele Terroranschläge, die man gefühlt nicht mehr zählen konnte.

Eines abends gingen wir mit meiner Cousine aus. Schließlich waren wir alt genug und wollten unseren Spaß haben, wobei dabei fraglich ist, wann man dafür alt genug sein muss. Wir saßen in verschiedenen Bars. Doch wir waren Mädchen. Liebste Heimat, was ist nur los mit deinen Männern? Was wollen sie und wovon können sie nicht genug haben? Wir wurden unheimlich oft auf ekelerregende Weise angemacht. Hier würde man das eindeutig als sexuelle Belästigung betiteln. Wir gingen verstört und unheimlich wütend nach Hause.

Liebste Heimat, du gehört allen, die dich wollen. Doch schließe doch bitte jene aus, die in meine Freiheit eingreifen. Bitte beschütze mich, das würde ich doch auch für dich tun.

15. Juli 2016, Putschversuch. Mein Herz wurde schwer, ich hatte Angst und war unheimlich wütend. Was würde mit meiner Familie geschehen? Sie sind doch alle eindeutig gegen die regierende Partei. Wird das fatale Auswirkungen haben? Doch mindestens genauso hatte ich Sorge um dich, liebste Heimat. In den ersten Aufzeichnungen sah man bereits, wie die Menschen ermordet wurden. Egal, was man von dem extremen Stolz der Soldaten in der Türkei hält. Ich blicke da sehr kritisch drauf, werde natürlich von vielen belächelt und kritisiert, doch das ist hier unerheblich. Die meisten sind noch Jugendliche verdammt. 20-jährige Heranwachsende, die man kaltblütig mit den Rufen von „Allahu akbar“ ermordet hat.

Liebste Heimat, hattest du mir anfangs nicht deine Wärme und Herzlichkeit gegeben? Wo ist sie nur geblieben, ich spüre sie nicht mehr. Ich spüre nur noch blanken Hass, Zorn, und vor allem Dummheit der Menschen, die dich zum Teil beleben. Sie nehmen dich mir weg.

Hallo zweite Heimat, liebstes Deutschland. Von dir habe ich ein paar schlechte Seiten, jedoch auch unheimlich viel Gutes erfahren. Du beschützt mich. Du nimmst mich auf, gibst mir eine gute Schuldbildung und gewährst mir Meinungsfreiheit. Ich liebe deine Rationalität, bin dankbar, in einem Land aufzuwachsen, wo Goethe gedichtet hat, Albert Einstein aufgewachsen ist und ich somit so viel mehr vom Menschsein und der Erde verstehe. Doch auch du bist in Gefahr. Liebste zweite Heimat, lass es nicht zu. Lass nicht zu, dass die Geschichte sich wiederholt, nur diesmal in der Türkei.

An dem ersten Tag des Putschversuches ging ich sehr spät nach Hause. Ich hörte vereinzelte Rufe, ignorierte sie jedoch. Ich wohne in der Nähe des türkischen Konsulats, deshalb war mir natürlich bewusst, dass es etwas lauter werden könnte. Doch als ich nach Hause kam, wurde es unerträglich laut. Meine Freundin schrieb, dass sie etwas verängstigt war. Erdogan hatte die Menschen dazu aufgerufen, für die Demokratie zu demonstrieren. Und das taten sie auch hier in Deutschland. In der Meinung für die Demokratie zu demonstrieren, demonstrierten sie in Wahrheit gegen uns Minderheiten, Verfolgte und anders Gläubige. Als Ausrede nahmen sie die ach so verräterischen Soldaten.

Sie hingen sich große türkische Flaggen um und protzten mit ihrem Nationalstolz. Sie sahen so verloren aus, wahrscheinlich sind sie es auch.

Liebste Heimat, egal welche sich angesprochen fühlen mag, noch ist nichts verloren. Ich gebe dich nicht auf. Sei es die Naivität oder der utopische Gedanke, den Weltfrieden einführen zu können. Hab Geduld. Kinder sind wie kleine Knospen die aufblühen, wenn man sie lässt. Egal, wie oft sie belächelt werden, ihre kleinen unbedeutsamen Sprüche können zu Bedeutsamen werden. Wir sind deine Kinder, die dich und die darin verankerte Menschlichkeit nicht aufgeben werden und wollen.

Eda Pekinsoy veröffentlichte den Brief auf ihrer Facebook-Seite. Wir danken ihr für die Abdruckgenehmigung.

[Zur Autorin]

EDA PEKINSOY ist eine in Deutschland geborene Alevitin. Ihre Familie stammt ursprünglich aus der Region Sivas in Zentralanatolien, weswegen sie sich der Türkei und den dort lebenden Aleviten sehr verbunden fühlt. Eda studiert momentan Jura in Köln.

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