Foto: Kamal Sido
Bereits am 13. März gegen 11 Uhr, als wir, d.h. mein Reisebegleiter in den ersten Tagen Sirwan Haji Berko, sein Vater und ich, die kurdisch-kurdische Grenze bei Fish Khabour (Semalka) am Tigris überquerten, war mir bewusst, wie wichtig dieser Grenzübergang für die Menschen im Nordwesten von Syrien ist. Das Gebiet zwischen Tigris und Euphrat, vom Derik (arab.: Al-Malikiyah) im Osten bis nach Kobani im Westen, ist nur über diesen Grenzübergang erreichbar. Zwar ginge dies auch über den Flughafen von Qamischli, dieser befindet sich allerdings unter der Kontrolle des syrischen Regimes in Damaskus. Der Weg Qamischli – Damaskus ist der einzige legale Luftweg in die syrische Hauptstadt, welcher auch von den Vereinten Nationen hin und wieder für humanitäre Flüge genutzt wird.
Alle Grenzen von der Türkei in das „Kurdengebiet“ Nordsyriens sind vollständig geschlossen. Nur in der nordwestlich gelegenen Stadt Kobani wird sie an zwei Tagen in der Woche für ein paar Stunden geöffnet. Allerdings dürfen dann nur diejenigen Menschen die Grenze überqueren, die aus der Türkei zurück nach Syrien wollen und auch ursprünglich aus Kobani stammen.
Somit ist der Grenzübergang von Semalka die einzige Möglichkeit, nach Rojava rein, aber auch raus zu kommen oder humanitäre Lieferungen in die Region zu bringen.
Auf der irakisch-kurdischen Seite ist die „Demokratische Partei Kurdistans“ (DPK-Irak) von Masud Barzani an der Macht, der seit elf Jahren Präsident der autonomen Region Kurdistan im Nordirak ist. Bereits 1979 hatte Barzani den Vorsitz der DPK-Irak von seinem im gleichen Jahr verstorbenen Vater, Mustafa Barzani, übernommen. Mustafa Barzani, die legendäre Figur der kurdischen Unabhängigkeitsbewegung im Irak, gilt als einer der bedeutendsten Kurdenführer des 20. Jahrhunderts.
Wir hätten den Grenzübergang ohne lange Kontrollen passieren können, wenn wir von offiziellen Angehörigen der DKP begleitet worden wären. Doch genau das wollten wir nicht. Wir hatten die Absicht, die Grenze als einfache Bürger zu passieren, um zu sehen, wie die Kurden im Irak und in Syrien einander behandeln. Tatsächlich überquerten wir die Grenze nahezu problemlos. Unsere Pässe eines Staates der „Ungläubigen“ verschafften uns dabei sicherlich große Vorteile. Denn wir alle sind deutsche Staatsbürger. Sicherheitshalber hatte ich ein Schreiben von einem hohen Funktionär der DPK-Irak dabei, das uns bei Schwierigkeiten sicherlich geholfen hätte.
Mit einem Motorboot, das der DPK-Irak gehörte und mit vielen kurdischen Fahnen geschmückt war, überquerten wir den Tigris vom Irak nach Syrien. Ich wunderte mich über diese Überfahrt mit dem Motorboot, da links von uns eine provisorisch errichtete Brücke zu sehen war. Ich beobachtete, wie große Lastwagen diese Brücke überquerten. Warum sie hingegen für den Personenverkehr nicht benutzt wurde, konnte oder wollte mir niemand beantworten. Trotz mehrerer Versuche meinerseits wollte sich keiner der Kurden, die mit uns den Fluss überquerten, über die internen kurdischen Streitigkeiten mit uns unterhalten. Drei Tage nachdem wir die Grenze überquert hatten, wurde diese Brücke am 16. März für den Grenzhandel geschlossen. Dies bedeutete, dass keine Lastwagen mit dringend notwendigen Waren diese Brücke überqueren durften. Den Grund der erneuten Schließung der Brücke diskutierten die Kurden stark. Die einen warfen Barzani vor, sich dem Druck des türkischen Präsidenten Erdogan zu beugen; andere kritisierten die PYD, sie hätte Barzani nahe syrische Kurden wieder einmal verfolgt, wodurch Barzani die Brücke als Druckmittel gegen die PYD schließen musste. Mittlerweile ist der Grenzübergang zum Teil wieder geöffnet. (Stand: 12. Juli 2016)
Auf der syrisch-kurdischen Seite angekommen, begann ich die Menschen vorsichtig zu provozieren, um ihre Toleranzgrenze festzustellen. Die uniformierten Frauen von der syrisch-kurdischen „Grenzpolizei“ waren locker, aber sicher in ihrem Umgang mit den Reisenden. Als man bei der Durchsuchung zwei Whisky-Flaschen in meinem Koffer entdeckte, war ich neugierig auf die Reaktion der kurdischen Polizistin. Alkohol ist zwar in Irakisch-Kurdistan und Rojava nicht verboten, jedoch in der Öffentlichkeit ungern gesehen. Auch hier war die nette Polizistin gefasst und reagierte professionell. Es war für mich also kein Problem, Whisky nach Rojava einzuführen.
Die einzelnen Kapitel im Überblick:
Semalka: Der einzige Weg nach Rojava
Plädoyer für ein multiethnisches und multireligiöses Rojava
Auf jüdischen Spuren in Qamischli
Kurdisches Neujahrsfest in Kobani
Militärischer Begleitschutz in Tall Abyad
Das neue Militärbündnis „Syrian Democratic Forces“ in al-Hasakeh
Christliches Leben in al-Hasakeh und Qamischli
Rojava-Nordsyrien benötigt unsere Solidarität