Während des kurdischen Neujahrsfest Newroz plante der IS Anschläge in Kobani. Die Sicherheitsvorkehrungen waren dementsprechend hoch. Foto: Kamal Sido
Nach zwei Tagen Aufenthalt in Kobani ging es am 22. März über Tall Abyad, das überwiegend von arabischen Sunniten bewohnt ist, wieder zurück nach Amude bzw. Qamischli. Die Verbindung zwischen Kobani im Westen und Qamischli im Osten wurde erst im Juni 2015 wieder hergestellt, nachdem die YPG und ihre Verbündeten den IS aus Tall Abyad vertrieben hatten. Erneut musste ich unter dem Schutz vom kurdischen Militär reisen, denn es wird vermutet, dass noch viele arabische Sunniten in Tall Abyad zum IS halten. Daher wird Zivilisten, vor allem Ausländern, dringend empfohlen, Tall Abyad nur bei Tageslicht und in militärischer Begleitung zu passieren.
Tall Abyad (kurd. Gire Spi) – als Distrikt und als gleichnamige Distrikthauptstadt – gehört dem syrischen Gouvernement ar-Raqqa an und liegt direkt an der türkischen Grenze gegenüber der türkischen Stadt Akcakale. Die gleichnamige Hauptstadt wird heute als Hauptstadt des IS gesehen. Ende 2010 lebten dort etwa 200.000 Menschen, davon ein Drittel Kurden. Auch eine kleine Anzahl von Schiiten und Christen gehörte zur Bevölkerung von ar-Raqqa. Mitte 2013 nahm der IS die Stadt ein und verjagte die so genannten „moderaten“ Islamisten aus der Region – auch vertrieb er die meisten Kurden aus ar-Raqqa. Die wenigen verbliebenen Kurden forderte der IS im Juni 2015 unter Todesdrohungen auf, innerhalb von 72 Stunden die Stadt zu verlassen. Auch die meisten Christen flohen nachdem der IS ar-Raqqa eingenommen hatte. Die wenigen, die vor Ort geblieben sind, müssen sich bis heute vor der islamistischen Terrormiliz fürchten.
Während die Hauptstadt immer noch vom IS kontrolliert wird, ist Tall Abyad mittlerweile wieder befreit. Doch die Herrschaft der Islamisten hat auch hier ihre Spur hinterlassen: Tall Abyad hatte im Jahr 2004 etwa 15.000 Einwohner, die sich aus Arabern, Kurden und syrischen Christen zusammensetzten. 2013 wurden nahezu alle Kurden und Christen vom IS und anderen Gruppen der syrischen pro-türkischen Opposition aus Tall Abyad vertrieben. (Wie mir Kurden und Araber berichteten, unterstützte die türkische Regierung die Radikalislamisten.) Viele Häuser der Kurden wurden zerstört und ihr Eigentum beschlagnahmt. Im Februar 2015 starteten kurdische Truppen einen Großangriff auf die vom IS besetzte Stadt. Im Juni 2015 kam es zu heftigen Kämpfen um Tall Abyad. Im Laufe dieser Kämpfe haben die Kurden und die mit ihnen verbündeten Araber den IS aus Tall Abyad vertreiben können.
Tall Abyad wurde aufgrund seiner strategischen Lage einer besonders scharfen Arabisierungspolitik unterzogen und ist eine der Regionen, aus der die meisten Kurden ab den 1960er Jahren vertrieben worden sind.
Das Kappen der Verbindung zwischen der Türkei und ar-Raqqa und die Beendigung der Einkesselung von Kobani bedeuteten einen schweren Schlag für die türkische Syrien-Politik. Aus diesem Grund reagierte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan auf diesen Erfolg der Kurden sehr heftig. Er stellte die USA vor der Wahl: „Wer ist euer Partner, ich oder die kurdischen Terroristen?” Im Kampf um Tall Abyad, wie auch um Kobani, gaben die USA der kurdischen YPG Luftunterstützung. In diesem Zusammenhang warfen die türkische Regierung und mit ihr loyale syrische Oppositionelle der YPG vor, Araber und Turkmenen aus Tall Abyad vertrieben zu haben. Diese Vorwürfe konnten nicht bestätigt werden. (GfbV)
Die einzelnen Kapitel im Überblick:
Semalka: Der einzige Weg nach Rojava
Plädoyer für ein multiethnisches und multireligiöses Rojava
Auf jüdischen Spuren in Qamischli
Kurdisches Neujahrsfest in Kobani
Militärischer Begleitschutz in Tall Abyad
Das neue Militärbündnis „Syrian Democratic Forces“ in al-Hasakeh
Christliches Leben in al-Hasakeh und Qamischli
Rojava-Nordsyrien benötigt unsere Solidarität