Delphine Horvilleurs Überlegungen zur Frage des Antisemitismus

Laut einer Studie des Jüdischen Weltkongresses hegt jede vierte deutsche Person antisemitische Gedanken. Die Befragung, die kurz vor dem Anschlag auf die Synagoge in Halle im Oktober 2019 stattfand, macht klar: Die Thematik des Essays ist aktueller denn je und greift auf, was heute oftmals als vergangene Geschichte stigmatisiert wird. Antisemitismus ist allgegenwärtig und keineswegs Vergangenheit aus Zeiten des Zweiten Weltkriegs. Wie also die Balance finden zwischen ständigem Hochholen vergangener Ereignisse und dem Vergessen? 

Von Hannah Mohr, GfbV-Praktikantin in der digitalen Kommunikation; Foto: Deutschlandfunk Kultur

Die Autorin Delphine Horvilleur gibt darauf eine präzise Antwort: Die Stimme unseres Erbes und vergangen Leids darf nie zum Schweigen gebracht werden, aber sie soll auch nicht allen Raum in uns beanspruchen, als wäre sie der einzige Ausdruck unseres Seins. Sie ist eine von drei Rabbinerinnen Frankreichs und gehört zu den dortig erfolgreichsten Stimmen des liberalen Judentums in. Der Essay Überlegungen zur Frage des Antisemitismusist ihr erstes in deutsche Sprache übersetztes Buch, erschienen im Februar 2020. 

BILD: MEDEF via Flickr (CC BY-SA 2.0) 

Was heißt es jüdisch zu sein und wer definiert dies? Wie sähe die Definition ohne antisemitisches Gedankengut heute wirklich aus? Mit immenser Tiefe und erschreckender Klarheit verdeutlicht die Autorin die Gemeinsamkeiten von Fremdenfeindlichkeit, Antisemitismus und Frauenfeindlichkeit. Unerwarteterweise beruht ihre systematische Analyse weder auf soziologischer noch auf psychologischer Basis. Stattdessen wählt sie einen theologisch-philosophischen Ansatz, analysiert kleinschrittig Bibelverse und Talmudzitate in deren Sprache und Rhetorik, hangelt sich an Erzählungen Jean-Paul Sartres entlang und zeigt in analytischer Tiefe die Ursprünge der Judenfeindlichkeit auf. Dabei verwendet sie stets das generische Maskulinum und verdeutlicht somit umso mehr die misogyne Tendenz des Antisemitismus. 

Horvilleur betrachtet unter anderem das Verhältnis von Frauenfeindlichkeit und Antisemitismus und stellt heraus, dass beide desselben Ursprungs entspringen. Ist Antisemitismus demzufolge eine „Männerkrankheit“ und gibt es geschlechterspezifische Formen des Antisemitismus? Delphine Horvilleur greift frühere Schriften der Psychoanalytikerin Margarete Mitscherlich auf, die sich zuvor schon einmal mit dieser Frage beschäftigt hatte. Ihr zufolge sei der Antisemitismus eine Pathologie des Über-Ichs, welches auf direktem Wege an die Kastrationsangst geknüpft sei und somit eher bei Männern als bei Frauen auftrete. Im Geist und Körper gleiche der Jude einer Frau, schreibt der junge Otto Weininger, auf dessen Schriften sich Adolf Hitler später beruft. Der Jude sei stets lüsterner als der arische Mann, er sei, wie die Frau, Lust, Sinnen und Fleisch stärker ausgeliefert. Diese Thesen entstammen der um die Jahrhundertwende in Europa florierenden pseudo-wissenschaftlichen Literatur, die das Judentum mit sexueller Obsession in Verbindung bringt.

Delphine Horvilleurs Überlegungen zur Frage des Antisemitismus sind nicht nur für diejenigen Leser*innen interessant, die sich mit den Ursprüngen des Antisemitismus auseinandersetzen wollen. Viel mehr umfasst das Buch eine noch tiefgreifendere Thematik: Die Frage nach der eigenen Identität. Wäre ich mehr ich selbst, wenn ich einen Teil von mir verleugnen würde? 

Sicherlich hat Delphine Horvilleur nicht auf alle unsere Fragen eine Antwort, doch bildet dieser Essay eine fundierte Grundlage für viele weitere zukünftige Auseinandersetzungen mit dem Thema des Antisemitismus, die auch heute keineswegs an Aktualität verloren haben. 

Diese Buchempfehlung erschien in unserer Reihe Seite an Seite. Als Zeichen gegen Antisemitismus machen wir jeden Montag auf jüdisches Leben, jüdische Bräuche oder antisemitische Bedrohungen aufmerksam. Wir nennen diese Reihe „Seite an Seite“. Denn gemeinsam mit euch, mit den sozialen Medien möchten wir dem Hass, der der jüdischen Minderheit in Deutschland entgegen schlägt, etwas entgegensetzen. Seite an Seite ❤️ Bitte teilt unsere Beiträge und zeigt eure Unterstützung für jüdisches Leben: #MontagsGegenAntisemitismus

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