Indiens neues Staatsbürgerschaftsgesetz soll religiöse Minderheiten vor Verfolgung schützen, doch muslimische Inder*innen sind explizit von der Regelung ausgeschlossen. Seit nun mehr als zwei Monaten wird in der Hauptstadt deshalb demonstriert. Frauen nehmen bei den Protesten eine Schlüsselrolle ein.
Autorin: Natalie Friedl, Praktikantin bei der GfbV
Es ist ein ungewöhnliches Bild, das sich derzeit in Shaheen Bagh, einem muslimisch-geprägten Stadtviertel im Süden Delhis zeigt. Was vor über zwei Monaten noch als Hauptverkehrsstraße diente, ist heute von tausenden Frauen besetzt. Unter ihnen sind Studentinnen und Hausfrauen sowie zahlreiche Mütter mit ihren Kindern. Den Kern des Sitzstreiks bilden jedoch ältere Frauen. „Dabangg Dadi“ werden sie hier genannt, „die furchtlosen Großmütter“, die aus Solidarität mit ihren Kindern und Enkel*innen auf der Straße ausharren. Sie alle wirken nicht wie gewöhnliche Aktivistinnen. Tatsächlich ist es für die meisten die erste Teilnahme an einem Protest. Bisher hatten sie die Politik den Männern ihrer Familien überlassen, doch die Angst aus ihrem Heimatland verwiesen zu werden treibt sie an, sich zum ersten Mal mit politischen Themen auseinanderzusetzen und für ihre Bürgerrechte einzustehen.
Am 15. Dezember begannen in Shaheen Bagh die Demonstrationen gegen das Staatsbürgerschaftsgesetz (CAA), das von Narendra Modi’s hindu-nationalistischer Regierung verabschiedet wurde. Bis zu 14 Stunden verbringen die Frauen täglich auf der Straße, in einem der kältesten Winter Nordindiens des letzten Jahrhunderts. Nafeesa Begum ist eine 31-jährige Mutter von zwei Kindern. Jeden Abend kommt sie zum Protest und verlässt ihn erst in den Morgenstunden, um ihre Tochter zur Schule und ihren Ehemann zur Arbeit zu bringen. Tagsüber geht sie selbst arbeiten, um das Familieneinkommen aufzubessern. Zeit zu schlafen bleibt da kaum. Auch Noornisa, eine Frau, die ihr Alter auf etwa 70 schätzt – ihr Geburtsjahr weiß [kennt] sie nicht – ist seit dem ersten Tag vor Ort. „I go home only because I have a husband who is unwell”, sagt sie. “I keep telling him that he needs to learn to do things on his own. I am busy fighting for my country.”
Staatsbürgergesetz und Bürgerregister: Die diskriminierenden Maßnahmen der Hindu-Nationalisten
Das umstrittene Gesetz soll die Einbürgerung von Migrant*innen aus den benachbarten Ländern Pakistan, Bangladesch und Afghanistan erleichtern, die vor 2015 nach Indien kamen – sofern sie nicht muslimisch sind. Was von der Regierung als solidarischer Akt gegenüber religiösen Minderheiten getarnt ist, ist höchst problematisch, denn das Gesetz bindet das Recht auf die Staatsbürgerschaft an die religiöse Zugehörigkeit und verstößt damit gegen die säkularen Prinzipien der indischen Verfassung.
Um das Ausmaß der Konsequenzen zu verstehen, die dieses Gesetz für muslimische Staatsbürger*innen birgt, muss es im Zusammenhang mit dem nationalen Bürgerverzeichnis (NRC) betrachtet werden. Um darin aufgenommen zu werden, muss die rechtmäßige Staatsbürgerschaft anhand einer Reihe von Dokumenten vorgewiesen werden. Bisher existiert ein solches Verzeichnis nur für den nordöstlichen Bundesstaat Assam, doch Innenminister Amit Shah plant, das Register auf Landesebene auszuweiten. In Assam wurden im August 1,9 Millionen Menschen aufgrund fehlender Unterlagen als illegale Migrant*innen erklärt; ein Großteil von ihnen sind muslimischen Glaubens. Ihnen droht nun die Staatenlosigkeit.
Für alle anderen Betroffenen wurde mit dem Staatsbürgerschaftsgesetz ein Schlupfloch geschaffen: Stammen sie aus einem der drei Herkunftsländer können sie über diesen Weg die Staatsbürgerschaft zurückerlangen und sind somit vor Staatenlosigkeit und Abschiebung geschützt. Kritiker*innen sehen das Einbürgerungsgesetz als einen gezielten Versuch der hindu-nationalistischen Bharatiya Janata Party Muslim*innen, die mit 200 Millionen die größte Minderheit des Landes bilden, als Bürger zweiter Klasse zu marginalisieren.
Frauen als Symbol des Widerstands
Viele befürchten jetzt, dass das neue Gesetz den Weg für ein landesweites Bürgerregister bereiten könnte. Vor allem Frauen hätten dann Grund zur Sorge, denn schon in Assam zeigte sich, dass sie im Allgemeinen weniger Ausweispapiere vorlegen können. Das hat unterschiedliche Gründe: Viele indische Mädchen verlassen schon in jungen Jahren ihr Elternhaus um zu heiraten und haben daher oft Schwierigkeiten, die Verbindung zu ihren Familien nachzuweisen. Zudem werden Geburten von Mädchen häufig nicht registriert und Eigentumsdokumente werden in der Regel auf den Namen des Mannes ausgestellt. Anderen Frauen wiederum fehlen schlicht die finanziellen Mittel um die geforderten Unterlagen zu beschaffen.
Die Unsicherheit über ihre Zukunft treibt viele nun auf die Straßen. Sie forderten zu Gesprächen mit Innenminister Shah auf, aber bisher zeigt sich die Regierung nicht verhandlungsbereit. Am 19. Februar wurden Vermittler des Obersten Gerichtshof nach Shaheen Bagh geschickt, die die Demonstrierenden davon überzeugen sollten, die Straße zu räumen, doch diese sind fest entschlossen auszuharren, bis die Regierung das umstrittene Gesetz zurückzieht. Die Frauen von Shaheen Bagh wurden zum Symbol des Widerstands und der Emanzipation zugleich; ihre Sitzblockade dient als Vorbild für ähnliche friedliche, von Frauen angeführte Proteste in anderen Teilen Indiens, wie beispielsweise in Lucknow, Mumbai, Chennai und Kalkutta.
Gewaltsame Ausschreitungen in Neu-Delhi
Aber nicht überall ist die Lage entspannt. Im Nordosten Delhis kam es zwischen dem 23. und 26. Februar zu gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen Befürworter*innen und Gegner*innen des Staatsbürgergesetzes. Moscheen wurden in Brand gesetzt, Häuser und Geschäfte zerstört. Delhis muslimische Gemeinde wurde zum Opfer gewaltsamer Angriffe hindunationalistischer Mobs. Mindestens 47 Menschen wurden dabei getötet, rund 200 weitere wurden verletzt. Berichten zufolge sahen die Einsatzkräfte tatenlos zu und waren wohl in einigen Fällen sogar an den gewaltsamen Übergriffen auf muslimische Bürger*innen beteiligt.
In Shaheen Bagh bleibt die Atmosphäre dagegen weiterhin friedlich und hoffnungsvoll: Örtliche Ladenbesitzer*innen versorgen die Demonstrierenden mit Lebensmitteln, Freiwillige verteilen Tee und Decken. Auch Hindus, Sikhs und Christ*innen sind vor Ort, um die Proteste zu unterstützen. Seit Beginn seiner zweiten Amtszeit im Mai 2019 hat Premierminister Modi einen deutlich anti-muslimischen Kurs eingeschlagen, mit der Absicht, das Land entlang der Religionen zu spalten. Doch durch die Proteste wurde eine Welle der Solidarität in Indien ausgelöst, die auch vor religiösen Differenzen nicht Halt macht. Denn eines eint die Demonstrierenden: Sie alle möchten die säkulare Verfassung ihres Heimatlandes verteidigen und ein Zeichen setzten für ein pluralistisches, multireligiöses Indien. „We are Indians first and then, Hindus or Muslims,” beteuern sie.