Die Lage in Kaschmir spitzt sich zu: Der drohende Entzug des Autonomiestatus der Region trübt das Opferfest vieler Muslime beidseits der Demarkationslinie.
von Robin Shakibaie; Foto: Occupied Kasmir via Wikipedia
Nachdem die indische Regierung unter Präsidenten Narendra Modi am 5. August eine Resolution verabschiedete, die die Aufhebung des Artikel 370 der indischen Verfassung zum Ziel hat, steht das Bundesland Jammu und Kashmir vor der Degradierung zu einem Unionsterritorium. Nicht nur droht ihm der Verlust seiner umfassenden Sonderrechte, darüber hinaus soll es auch in zwei Teilterritorien zerlegt werden. Dies ist ein weiterer Schritt der hindunationalistischen Regierung Modis, religiöse Minderheiten des Landes aus dem öffentlichen Leben auszugrenzen. Während der internationale Protest, insbesondere seitens der Islamischen Republik Pakistan, nicht lange auf sich warten ließ, begründet Modi den Vorstoß mit einer Aussicht auf wirtschaftliche Prosperität und Frieden im Nordwesten Indiens. Anlässlich des islamischen Opferfestes und des indischen Unabhängigkeitstages hat dieser Schritt eine große Symbolwirkung.
Über 70 Jahre des Krieges, der Verfolgung und Vertreibung
Die Region Kaschmir ist international heftig umstritten. Nach der Teilung und Auflösung der Kolonie Britisch-Indiens erheben Indien, Pakistan und China Anspruch auf diesen Abschnitt des Himalaya-Gebirges. Während die Vereinten Nationen im Jahr 1947 noch eine Aufteilung der Region vorlegten, führten Indien und Pakistan sowohl im selben Jahr, als auch 1965 und 1971 Krieg um sie – während China inzwischen ihre östlichen Landstreifen besetzte. Heute ist die Region Kaschmir geteilt und in die föderalen Systeme der drei Anrainer integriert. Das Areal Jammu und Kaschmir, das innerhalb der Republik Indien als autonomer Bundesstaat eingegliedert wurde, ist heute der einzige indische Bundesstaat mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit. Insgesamt ist die Bevölkerung des gesamten Kaschmirs ethnoreligiös sehr divers – die Konfliktparteien treten jeweils als Schutzmächte der muslimischen und hinduistischen Bewohner auf. Nach Jahren gewaltvoller Auseinandersetzungen und Übergriffen auf die jeweils andere Volksgruppe verließen die hinduistischen Kashmiri Pandits in den 1990er Jahren das Bundesland Jammu und Kaschmir.
Schwere Vorwürfe seitens Pakistans
Mit einer erfolgreichen Aufhebung des Autonomiestatus und der Sonderrechte Jammu und Kaschmirs wird indischen Staatsbürgern anderer Landesteile ermöglicht, dort Land zu erwerben. Die Kashmiri Pandits können sich nun also Hoffnungen auf eine Rückkehr in ihre Heimat machen. Gleichzeitig ist jedoch ein Wiederaufflammen der Zusammenstöße zu befürchten. Beobachter ziehen Parallelen zum Fall Palästinas und betrachten einen sich anbahnenden „Siedlerkolonialismus“ mit Argwohn. Währenddessen spricht Imran Khan, Premierminister Pakistans, von einer „ethnischen Säuberung“ des mehrheitlich von Muslimen bewohnten Jammu und Kaschmirs. Er fordert die Weltgemeinschaft auf, Narendra Modis hindunationalistischen Kurs zu stoppen. Khan kündigt an, den Fall vor den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen zu bringen.
Bewohner Kaschmirs zwischen den Fronten
Während es Meldungen über beidseitige Überquerungen der Demarkationslinie des geteilten Kaschmirs und Schusswechsel sowohl von indischen als auch pakistanischen Streitkräften gibt, reiste der pakistanische Außenminister Shah Mahmood Qureshi zu Konsultationen nach Beijing. Der Disput um Kaschmir scheint gefährliche Dimensionen anzunehmen. Neben der Atommächte Indien und Pakistan ist nun nicht nur China involviert, sondern auch Saudi-Arabien, der Iran und die Türkei. Letzt genannte werden beschuldigt, einen Keil zwischen die kaschmirischen Muslime zu treiben, indem sie Sunniten, Schiiten und Fundamentalisten des sogenannten „Islamischen Staates“ auf ihre jeweilige Seite ziehen. Ob es den beteiligten Parteien um das Wohl der ansässigen Bevölkerung geht, oder Kaschmir zum Spielball eines neuen Great Game wird bleibt fraglich.
Feiertage in den eigenen vier Wänden
Während der indische Vorstoß in Jammu und Kaschmir international hohe Wellen schlägt, verhängte die Regierung aus Sorge vor Unruhen eine allgemeine Ausgangssperre und nahm über 500 Zivilisten in dem Bundesland fest. Gleichzeitig wurden Aktivisten und Lokalpolitiker unter Hausarrest gestellt. Die militärische Präsenz der indischen Streitkräfte wurde in Jammu und Kaschmir erhöht, Telekommunikationsmittel darüber hinaus abgeschaltet. Das Abschalten der Telekommunikationsmittel zeichnet sich als globales Phänomen repressiver Regierungsführung ab. Nachdem dieses Jahr bereits im Sudan ähnliche Maßnahmen getroffen wurden, schließen sich kaschmirische Aktivisten an die sudanesische Protestaktion #blueforsudan an und riefen den Hashtag #redforkashmir ins Leben, um Twitterbeiträge über Jammu und Kaschmir zu sammeln. Das zeitgleich stattfindende Opferfest ist für die Muslime Jammu und Kaschmirs in diesem Jahr kein freudiges Fest. Viele Familien verbringen die Feiertage gezwungenermaßen getrennt voneinander und können sich gegenseitig nicht kontaktieren. Ein genaues dokumentieren der Vorgänge in Jammu und Kaschmir wird durch das Blockieren sozialer Netzwerke darüber hinaus erschwert.
Minderheiten im Visier der BJP
Wie sich die Situation in Jammu und Kaschmir zwischen der ansässigen Bevölkerung und den erwarteten Siedlern entwickelt, bleibt abzuwarten. Vertreter der dortigen nicht-muslimischen Minderheiten, den Sikhs, Dogras und noch verbliebenen Kashmiri Pandits, richteten in der Zwischenzeit einen gemeinsamen Brief an die Öffentlichkeit und verurteilten Jammu und Kaschmirs Entzug des Autonomiestatus. Nicht nur die Muslime, auch sie wären von einer Übernahme ihrer Grundstücke durch nicht-kaschmirische Siedler bedroht. Wie die Gesellschaft für bedrohte Völker bereits im vergangenen Jahr berichtete, sei die Lage der Minderheiten in Indien generell kritisch. Vor allem Muslime werden seitens der Regierungspartei Bharatiya Janata Party (BJP) „verarmt, diskriminiert und ausgegrenzt“. Wie auch im Umgang mit Geflüchteten Rohingya werden den Muslimen Jammu und Kaschmirs terroristische Aktivitäten unterstellt. Die BJP marginalisiert mit ihrem hindunationalistischen Regierungskurs Minderheiten und stellt sie unter Generalverdacht. Die Umstrukturierung des einzigen Bundesstaates mit einer muslimischen Bevölkerungsmehrheit ist somit ein weiterer Schritt, Menschenrechte in Indien abzubauen. Die Ankündigung, Artikel 370 aus der indischen Verfassung zu streichen, zwischen das islamische Opferfest und den indischen Unabhängigkeitstag zu legen ist nicht nur hochgradig demagogisch, sondern schlicht und ergreifend zynisch.
Die indische Regierung unter Narendra Modi treibt in Jammu und Kaschmir ein gefährliches Spiel. Nicht nur ruft sie externe, bis an die Zähne gerüstete geopolitische Mächte auf den Plan, allen voran lässt sie die Bewohner des Bundeslands leiden. Masseninhaftierungen und das Abschneiden von der Außenwelt sind moralisch überaus fragwürdig. Den Bewohnern Jammu und Kaschmirs droht Vertreibung und Stigmatisierung aufgrund ihrer religiösen Zugehörigkeit. Allgemeine Menschenrechte müssen in Indien bewahrt werden. Eine weitere Eskalation des historisch belasteten Konflikts um die Menschen Kaschmirs ist zu verhindern!