Das deutsche Wort Verschwindenlassen (in Englisch: „enforced disappearance“) klingt harmloser, als es ist. Gemeint ist damit jedoch eine der gravierendsten Menschenrechtsverletzungen, die es gibt. Menschen systematisch verschwinden zu lassen, ist eine politische Praxis, um Gruppen oder der ganzen Bevölkerung das Gefühl der Sicherheit zu entziehen. Familien bleiben in Ungewissheit zurück und fühlen sich hilflos. Verschwindenlassen dient auch dazu, Macht zu demonstrieren und Gegner zum Schweigen zu bringen. Deshalb findet diese Methode in allen Teilen der Welt Anwendung.
Von Linda Fiene, GfbV-Referentin; Foto: Dying Regime via Flickr
Wer verschwindet und wer lässt verschwinden?
Das klassische Beispiel war lange Zeit, dass Diktatoren politische Gegner verschwinden lassen – oder andere Personen aus der Zivilgesellschaft, die vom Staat nicht gern gesehen waren. Zum Beispiel wurden unter der Pinochet-Diktatur in Chile tausende Menschen wegen ihrer politischen Überzeugung verhaftet oder entführt. Ihre Angehörigen wussten nicht, was mit ihnen passiert war. Viele wurden gefoltert und ermordet, ihre Leichen beseitigt. Über 2.000 Tote sind bestätigt, bis heute sind aber nicht alle Leichnamen gefunden oder identifiziert worden. Von über 1.000 Personen fehlt immer noch jegliche Spur. In anderen Lateinamerikanischen Militärdiktaturen der 1970er und 80er Jahre lief es ähnlich ab.
Heute sieht die Situation etwas anders aus: Es sind nicht mehr nur autoritäre Systeme, die durch staatliche Sicherheitskräfte Oppositionelle verschwinden lassen. Die Praxis findet heute auch in Staaten statt, die offiziell eine Demokratie sind (bspw. Mexiko). Auch nichtstaatliche Akteure, Rebellengruppen und Milizen machen davon Gebrauch. Im Kontext von bewaffneten Konflikten zählen neben politischen Gegner auch Kämpfer auf verschiedenen sowie Zivilisten zu den Verschwundenen. Es kann Frauen, Männer, Jugendliche oder Kinder treffen.
In letzter Zeit sind auch vermehrt Menschenrechts- und Umweltaktivist von Verschwindenlassen bedroht, darunter auch Minderheitenvertreter und indigene Aktivisten. Da sie lautstark ihre Rechte einfordern und Menschen mobilisieren, sind sie den Machthabenden (staatlich oder nichtstaatlich) ein Dorn im Auge.
Nicht nur die Verschwundenen selbst sind Opfer, auch ihre Familien
Es liegt auf der Hand, dass die Verschwunden selbst Opfer mehrerer Menschenrechtsverletzungen geworden sind. Sie wurden ihrer Freiheit und Familie beraubt und in vielen Fällen getötet oder gefoltert. Doch auch die Auswirkungen auf die Familien der vermissten Personen dürfen nicht unterschätzt werden. Sie leben in Angst und Ungewissheit, wo sich ihre Angehörigen aufhalten oder ob sie noch am Leben sind. Ganze Familien werden zerstört. Wenn der Vater oder Ehemann verschwindet, belastet das viele Familien nicht nur emotional, sondern auch finanziell. Da nicht bekannt ist, ob die Männer tot sind, erhalten die Frauen auch keine Witwenrenten. Erbschaften bleiben ungeklärt. Die Familien erhalten keine Antworten, es verbreitet sich ein Gefühl von Machtlosigkeit und Ausgeliefertsein. Und genau das ist das Ziel derjenigen, die für das Verschwindenlassen verantwortlich sind.
Wer sucht die Verschwundenen?
Die Suche nach Vermissten und die Bekämpfung von Verschwindenlassen sind äußerst schwierig. Oft mangelt es an politischem Wille und Kapazitäten, um nach Verschwundenen zu suchen. Selbst wenn es Behörden gibt, denen Fälle gemeldet werden können und die sich um die Suche kümmern, so bleiben viele Herausforderungen bestehen: Staatliche Stellen müssen nicht nur Daten sammeln, sondern sie auch zwischen den einzelnen Stellen austauschen. Es ist eine gute Koordinierung notwendig. Der Austausch von Daten über Ländergrenzen hinweg findet oft nicht (ausreichend) statt.
Daher sind Familienangehörige und Freunde oft die Einzigen, die aktiv nach den Vermissten suchen. Einige geben sogar ihre Arbeit auf, um auf die Suche zu gehen. Manchmal schließen sich Familien zusammen, um gemeinsam nach den geliebten Menschen zu suchen.
Allerdings werden in vielen Fällen die vermissten Personen nie mehr gefunden, in anderen Fällen sind die Verschwunden tot. Nicht selten tauchen viele tote Verschwundene zusammen an einem Ort wieder auf – die Rede ist von Massengräbern. Jedoch ist es mit dem Wiederfinden der Leiche noch nicht getan. Die Leichen müssen identifiziert und eindeutig den vermissten Menschen zugeordnet werden. Dafür braucht es technische (forensische) Expertise, die aber nicht immer vorhanden ist.
So grausam es klingen mag: Eine Leiche zu identifizieren, ist ein wichtiger Teil der Aufarbeitung des Verbrechens, denn nur so können die Angehörigen abschließen und von ihren geliebten Menschen Abschied nehmen. Außerdem können in vielen Fällen Rechte geltend gemacht werden (z.B. Witwenrenten oder Erbschaften), die nur dann in Kraft treten, wenn eine Sterbeurkunde vorgelegt werden kann.
Angehörige sind ebenfalls als Opfer des Verbrechens anzusehen. Sie benötigen Hilfe auf verschiedenen Ebenen, beispielsweise soziale und psychologische Begleitung oder wirtschaftliche Unterstützung. Zwar gibt es vereinzelt solche Angebote vom Staat oder Vereinen aus der Zivilgesellschaft, diese erreichen aber längst nicht alle Familien.
Fehlende Gerechtigkeit für die Opfer
Einer der Gründe, warum die Methode Verschwindenlassen weltweit zum Einsatz kommt, ist die vorherrschende Straflosigkeit. Eine Benennung der Täter ist oft schwierig und eine Strafverfolgung nur in seltenen Fällen möglich. So kommen die Verantwortlichen ungestraft davon und begehen möglicherweise weitere Menschenrechtsverletzungen. Die Familien spüren ihre Machtlosigkeit noch deutlicher.
Verschwindenlassen wird schon seit den 80er Jahren auf internationaler Ebene als menschenrechtliches Problem diskutiert. Ein Meilenstein war die Verabschiedung des “Internationalen Übereinkommens zum Schutz aller Personen gegen das Verschwindenlassen“ in einer Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen im Dezember 2006. Darin ist festgehalten, dass kein Staat selbst Menschen verschwinden lassen darf. Außerdem verpflichten sich alle Staaten, nach Verschwundenen zu suchen und Verantwortliche zur Rechenschaft zu ziehen. Zudem werden Familien Opferrechte zugestanden.
Der Vertrag trat 2010 in Kraft. Wie bei anderen Menschenrechtsverträgen wird die Umsetzung von einem Ausschuss überwacht. Der Ausschuss kann Länderbesuche und selbständige Untersuchungen durchführen sowie in Eil-Aktionen nach Verschwundenen suchen. Jedoch sind die Kapazitäten des Ausschusses nur begrenzt und ihre Ressourcen von den Vereinten Nationen immer mehr gekürzt. Nur wenige Fälle des Verschwindenlassens werden aufgeklärt.
Einsatz der Gesellschaft für bedrohte Völker
Neben den Vereinten Nationen setzen sich auch andere nationale und internationale Organisationen gegen das Verschwindenlassen ein. Auch die Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) begegnete in ihrer langjährigen Arbeit schon vielen Fällen von Verschwindenlassen. Aktuell beschäftigt sich die GfbV mit der Situation in China, wo unter anderem zahlreiche Uiguren verschwunden sind. Die chinesische Regierung lässt Angehörige dieser Minderheit verhaften oder entführen. Oft werden die Verschwundenen in Umerziehungslagern festgehalten. Die Familien wissen nicht, wo sich ihre geliebten Menschen befinden und ob sie noch am Leben sind. Die GfbV macht öffentlich auf diese Menschenrechtsverletzungen aufmerksam, stellt Forderungen an die Politik und setzt sich für Uiguren ein, die Angehörige vermissen.
Gleichzeitig fordert die GfbV die Aufklärung des Verschwindens des 11. Panchen Lamas, einer der wichtigsten Persönlichkeiten im tibetischen Buddhismus. Vor 24 Jahren wurde der damals sechsjährige Junge in China verschleppt. Sein Aufenthaltsort bleibt bis heute ungeklärt.
Obwohl die Kontexte und Hintergründe in den verschiedenen Zeitepochen und Orten der Welt anders sein mögen und jeder Fall individuell ist, so können doch viele Gemeinsamkeiten gefunden werden: Verschwindenlassen ist eine gravierende Menschenrechtsverletzung, die nicht nur die Verschwundenen selbst betrifft, sondern auch die Familien. Die Suche nach vermissten Personen ist mit vielen Herausforderungen verbunden. Verantwortliche werden nur selten zur Rechenschaft gezogen. Daher müssen sich Organisationen wie die GfbV weiter dafür einsetzen, dass Fälle von Verschwindenlassen aufgeklärt werden und Betroffene und ihre Familien Gerechtigkeit erfahren.