Der Hinduismus als moderne Erfindung und Gandhi als Unterdrücker – die Philosophin Divya Dwivedi stellt kontroverse Thesen auf. Im “Für Vielfalt”-Interview erklärt sie die Verfolgung religiöser Minderheiten und unterer Kasten durch die hindunationalistische Regierung Indiens.
Von Salome Müller; Foto: Salome Müller
Im Westen hat sich das Bild Indiens als „größte Demokratie der Welt“ festgesetzt. Mahatma Gandhi, der Anführer der indischen Unabhängigkeitsbewegung, gilt als Idol des gewaltlosen, antikolonialen Kampfs gegen soziale Ungleichheit. Doch gleichzeitig ist die indische Gegenwart von sehr rassistischen Strukturen geprägt: Alle 18 Minuten wird ein Verbrechen gegen Dalits aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur untersten Kaste begangen; jeden Tag werden Angehörige der ehemals als „unberührbar“ geltenden Kaste vergewaltigt und ermordet.
Laut Divya Dwivedi, außerordentliche Professorin für Literatur und Philosophie am Indian Institute of Technology in Delhi, Indien, handelt es sich bei dieser „doppelten Existenz Indiens“ um ein „im Ausland sorgfältig kuratiertes Bild“. Es werde von den oberen Kasten gepflegt, „während sie das Leben der Mehrheitsbevölkerung im Land brutal im Griff behalten.“
Wie die „Hindu“-Religion erfunden wurde
Die uralte Herkunft des Hinduismus – gemeinhin bekannt als die älteste der fünf Weltreligionen – ist umstritten, genauso wie die Existenz des „einen“ Hinduismus. Als Religion der Mehrheit wurde er laut Dwivedi erst zu Beginn des 20. Jahrhunderts erfunden, „im Kontext der neuen politischen Situation, in der sich die oberen Kasten unter der Imperialen Herrschaft befanden. Die britischen Kolonialbehörden bereiteten einen demokratischen Rahmen für die Selbstverwaltung des Subkontinents vor. Sie sollte nach den Grundsätzen des Verhältniswahlrechts funktionieren. Bei der dafür durchgeführten kolonialen Volkszählung sahen sich die Behörden jedoch mit einer verwirrenden Religionsvielfalt in der Bevölkerung konfrontiert. Der Einfachheit halber schlugen sie deshalb ´Hindu´ als übergreifende religiöse Kategorie vor.“
Zuerst lehnten die oberen Kasten diese Bezeichnung ab, denn die Idee einer gemeinsamen Religion mit den unteren Kasten widerstrebte ihnen. „Ihr Selbstverständnis war exklusiv, das heißt, diejenigen, die als ´niedriger´ galten, wurden ausdrücklich ausgegrenzt. Diese Verunglimpfung der unteren Kasten war die Voraussetzung für ihre Ausbeutung“, erklärt Dwivedi. „Bis heute ist es unteren Kasten verboten, die Tempel der oberen Kasten zu betreten. Was auch immer die alte Religion der oberen Kasten gewesen sein mag, es war nicht die Religion aller Inder*innen. Es gab nur einen uralten Kastenrassismus, der überdies bis heute überlebt hat, und das mit großem kulturellem Stolz.“
Eine „Hindu-Mehrheit“ als Machtinstrument
Doch damals wie heute stellten die oberen Kasten nur etwa zehn Prozent der Gesamtbevölkerung. „Daher beschlossen ihre Führer*innen, den Begriff ´Hindu´ als Selbstbezeichnung anzunehmen“, erzählt Dwivedi. Sie hätten auch bei der einfachen Bevölkerung darum geworben, diese bei der Volkszählung anzugeben. Unter dem Dach einer geteilten Religion fanden sich also alle Kasten in ihrer religiös begründeten Ordnung wieder. Die Angehörigen der oberen Kasten verschleierten ihre Minderheitsherrschaft durch die Schaffung einer gemeinsamen „Hindu-Mehrheit“. „Die Geburt der ´Hindu´-Religion entsprach ihrem Bedürfnis, die Macht im neuen demokratischen Apparat zu erhalten und gleichzeitig die sozioökonomische Vormachtstellung […] zu wahren.“
„Die meisten Gruppen der oberen Kaste – einschließlich ihrer Lobbyist*innen in der Kongresspartei wie Lajpat Rai und Gandhi – entwickelten die ´Hindu´-Religion mit“, fährt Dwivedi fort. In ihrem 2019 erschienenen Buch „Gandhi and Philosophy: On Theological Anti-politics“ (dt. Gandhi und die Philosophie: Über theologische Antipolitik”) unterzog sie Gandhis Kastendenken gemeinsam mit dem Philosophen Shaj Mohan einer kritischen Betrachtung. Sie bescheinigen Staatsvater Gandhi, dass er die Kaste und ihre „Selbstreproduktion der Gesellschaftsordnung“ als eine Essenz der „Hindu“- Religion sah.
Religiöse Einfalt
Diese „Hindu“-Religion verdeckt laut Dwivedi die „separate und autonome Religiosität der unteren Kasten“, für deren verschiedenen Religionen es zahlreiche Beweise gebe. Doch es würden ihnen unter dem Deckmantel der „Hindu-Mehrheit“ die Normen der oberen Kasten aufgezwungen, „ihre Götter, ihre Essensvorschriften, ihre kulturellen Symbole“. Sie müssten ihren Lebensunterhalt aufgeben und sich beispielsweise der Endogamie fügen. Diese strenge Heiratsregel, die nur Eheschließungen innerhalb der eigenen sozialen Gruppe erlaubt, ist, wie Dwivedi ausführt, „immer auch mit einer gewaltsamen Kontrolle der Arbeit und der Sexualität der Frauen verbunden.“
Das Kastensystem mache auch vor den religiösen Minderheiten im Land nicht Halt. Seine Hartnäckigkeit zeige sich unter anderem darin, dass Angehörige unterer Kasten, die zu einer anderen Religion konvertierten, weiterhin als „minderwertig“ behandelt würden. Die schon seit Jahrzehnten andauernde Pasmanda-Bewegung der unteren Kasten und Dalit-Muslim*innen gegen die obere Kaste der Ashraf-Muslim*innen zeuge davon. Dwivedi korrigiert auch die Vorstellung, dass alle Angehörigen religiöser Minderheiten automatisch bedroht seien. Sie sei das Gegenstück zum „Hindu“-Schwindel, denn es liege „im Interesse der Muslim*innen und Christ*innen der oberen Kaste, religiöse Einheitlichkeit zu projizieren, damit sie allein entscheiden können, wen sie in ihre Kirchen oder Friedhöfe lassen.“
Foto: Ajay Tallam/Flickr CC BY-SA 2.0
Pogrome als Bollwerk, Muslim*innen als Sündenböcke
Die Korrelation von religiösen Pogromen und kastenfeindlicher Mobilisierung bilde der konstitutive Rhythmus der modernen indischen Politik, sagt Dwivedi. „Seit ihren Anfängen haben die oberen Kasten auf die Herausforderung durch die unteren Kasten reagiert, indem sie religiöse Minderheiten zum Sündenbock machten, sowohl als Ablenkungsmanöver als auch als Bollwerk, um eine ´Hindu´- Stimmung gegen einen inneren Feind zu zusammenbringen.“ Muslim*innen würden zu Hauptgegner*innen der Nation stilisiert, denn die spektakuläre Gewalt gegen sie verschleiere die ständige Gewalt gegen die unteren Kasten und ihre politischen Bestrebungen.
„Die Forschungen von Ornit Shani und mehrere Berichte von Gerichtskommissionen haben ergeben, dass religiöse Pogrome im Kielwasser von Demonstrationen der unteren Kasten und Mobilisierungen für politische Rechte stattfinden“, bekräftigt Dwivedi, „das prominenteste Beispiel dafür ist der Abriss der Babri-Moschee in Ayodhya im Jahr 1991, um dort einen ´Hindu´-Tempel für König Rama zu errichten.“ Die schändliche Zerstörung vor den Augen der Polizei habe direkt nach den Empfehlungen der Mandal-Kommission zu höheren Quoten für die Angehörigen unterer Kasten im öffentlichen Dienst gestartet. Auch die antimuslimischen Pogrome von Gujarat von 2002 standen mit diesem Tempelbau in Verbindung.
Foto: Akso great/Wikipedia CC BY-SA 3.0
Doppelte Opfer: Untere Kasten
Dwivedi benennt klar, dass die Leidtragenden von Pogromen „immer die Angehörigen der unteren Kasten [sind], auch bei den religiösen Minderheiten. Wer die Minderheitenreligionen ins Visier nimmt, schreckt auch die unteren Kasten ab, dahin zu konvertieren. Pogrome gegen Christ*innen richteten sich zumeist gegen die christlichen unteren Kasten und indigene Dörfer sowie gegen die Missionar*innen, die sich für deren Verbesserung einsetzen. Kastenbezogene Gewalt ist immer demonstrativ, sei es im Hinblick auf die Zahl der Opfer oder die grausamen Gräueltaten, die einzelnen Dalit-Opfern angetan werden. Es ist Augenwischerei, in der Gewalt der oberen Kaste Abstraktionen zu ziehen und zu sagen, wann es um Religion und wann um Kaste geht, denn beide sind miteinander verwoben und dienen immer der Vorherrschaft der oberen Kaste.“
[Link zum Interview]
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[Autor*innenportrait]
Salome Müller arbeitet bei der Zeitschrift „Für Vielfalt“ und studiert Weltliteratur an der Universität Göttingen.
[Portrait von Divya Dwivedi]
Divya Dwivedi ist Philosophin und lebt auf dem indischen Subkontinent. Sie ist außerordentliche Professorin für Literatur und Philosophie am Indian Institute of Technology in Delhi, Indien. Ein Schwerpunkt ihrer Forschung ist die Kritische Philosophie zu Kaste und Rasse. Sie ist Herausgeberin und Mitbegründerin der Zeitschrift Philosophy World Democracy mit Jean-Luc Nancy, Mohan, Mireille Delmas-Marty und Achille Mbembe.
[Weiterführende Links]
Hindunationalismus (gfbv.de)
Massenproteste in Indien gegen umstrittenes Staatsbürgerschaftsgesetz (gfbv.de)
Menschenrechtsreport Nr. 78: Hindu-Nationalisten bedrohen Religionsfreiheit in Indien (gfbv.de)