Olivenbäume so weit das Auge reicht: So hat es noch vor wenigen Jahren in der nordwest-syrischen Region Afrin ausgesehen. Für die kurdische Bevölkerung nehmen die Bäume einen besonderen Platz in ihrem Glauben, in ihrer Kultur ein. Doch seit der türkischen Invasion sind Menschen und Natur in Gefahr.
von Muhiddin Sheikhali; Foto: Dr. Kamal Sido
Obwohl Oliven wegen ihrer Bitterkeit roh nicht genießbar sind, entwickelten die Menschen in der nordwest-syrischen Region Afrin verschiedene Hausmethode, um sie schmackhaft zu machen. Die Fruchtschale wird leicht zerquetscht und dann wiederholt in Wasser eingelegt. Mit dieser Prozedur werden die Bitterstoffe aus der Steinfrucht geschwemmt und die grünen Oliven werden essbar.
Insgesamt haben die Afrinis es perfektioniert, Oliven für sich zu nutzen. So sind die Olivenhaine der Region nicht nur wirtschaftlich, sondern auch kulturell existentiell für die kurdische Bevölkerung vor Ort.
Doch nun befinden sich die Baumbestände Afrins, insbesondere die Olivenbäume, in höchster
Gefahr. Das türkische Militär und syrische Islamisten ergreifen unmenschliche und naturfeindliche Maßnahmen in der Region. Allein im vergangenen Jahr (2020) wurden etwa 72.000 Olivenbäume gefällt. Die Anzahl der Olivenbäume, die durch das türkische Militär und syrischen Islamisten insgesamt bereits vernichtet worden sind, wird auf 200.000 Bäume geschätzt. Rund ein Drittel der ursprünglich 325 Olivenpressen und 18 von 26 Olivenverarbeitungsfabriken wurden zerstört oder entfernt. Für die Menschen in der Region ist das eine Katastrophe.
Operation „Olivenzweig“
Zu Beginn des türkischen Überfalls auf die nordwest-syrische kurdische Region Afrin rief der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan seine Anhänger auf: Sie sollen zu Allah beten, indem sie aus der Koransure „Al-Fatiḥa“ (Eroberung) rezitieren und so für den Sieg der türkischen Armee in ihrem völkerrechtswidrigen Krieg gegen Afrin sorgen. Nahezu 90.000 muslimischen Prediger folgten diesem Aufruf zur Unterstützung eines Angriffskrieges.
Unter dem Codenamen „Olivenzweig“ begann die Türkei am 20. Januar 2018 ihre Militärinvasion. Türkische Streitkräfte griffen 58 Tage lang Dörfer und Städte der Region Afrin an. Dabei kamen alle Arten der Luftwaffe, einschließlich der in den USA hergestellten F-16 Kampfflugzeuge und Drohnen mit israelischer Technologie, zum Einsatz. Panzer und andere gepanzerte Fahrzeuge deutscher Produktion rollten in Afrin ein. Mit schwerer Artillerie und Raketenwerfern nahmen die Angreifer die Region unter Beschuss. Auf dem Boden operierten syrische islamistische Söldner, Dschihadisten aus den Reihen der Muslimbruderschaft und der Al-Qaida. Auch Kämpfer, die früher für den sogenannten Islamischen Staat (IS) gekämpft hatten, waren im Einsatz – alles das unter der Führung der türkischen Regierung.
Im Verlauf der Aggressionen haben türkische Streitkräfte und die islamistischen Söldner schlimmste Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen an der Zivilbevölkerung begangen. Diese werden bis heute unvermindert fortgesetzt. Das Primärziel des türkischen Staates ist eine vollständige Änderung der demografischen Zusammensetzung Afrins: Die Türkei will Afrin kurdenfrei machen. Um dies zu erreichen, werden hunderttausende arabisch-sunnitische sowie turkmenische Familien in der einst nahezu ausschließlich von Kurd*innen bewohnten Region angesiedelt. Die Männer dieser neu angesiedelten Familien sind in der Regel bewaffnet und machen, was sie wollen. Die täglichen Schikanen dieser bewaffneten Gruppen führen dazu, dass immer mehr Kurdinnen Afrin verlassen.
Kulturell verwurzelt
Wohlwissend, dass Afrins kurdische Bevölkerung eine besondere Beziehung zu ihren Wäldern, Olivenhainen und Bäumen hat, werden nicht nur Menschen, sondern auch Flora und Fauna der Region in Mitleidenschaft gezogen. Neben alten Olivenbäumen gibt es in Afrin bemerkenswerte und alte Bäume, die von der Bevölkerung Mazî oder Gêlberî genannt werden. Es handelt sich um eine in der Region verbreitete Eichenart. Die Früchte werden im Winter im offenen Feuer oder auf Öfen gebraten und verzehrt. Früher wurden sie auch medizinisch gegen Krankheiten verwendet. Die Lebensdauer dieser Bäume beträgt 300 Jahre oder sogar mehr. Sie haben einen ganz besonderen Platz im Glauben der Kurdinnen und in ihrem kulturellen Erbe. Daher fühlen sich die Menschen verpflichtet, diese Bäume zu lieben und zu schützen.
Auch wenn Kurd*innen sich vor die Bäume stellen, holzen die Islamisten immer mehr Bäume dieser Art ab. Eine dauerhafte türkisch-islamische Besatzung Afrins könnte schwere Folgen für die Olivenhaine, Obstbäume – Granatäpfel, Walnüsse, Kirschen, Äpfel, Birnen, Aprikosen, Mangos und Mandeln – sowie natürlichen Wälder, die im östlichen Mittelmeerraum einzigartig sind, haben. Die seit Jahrtausenden in der Region kultivierten Olivenbäume zählten bis zur türkischen Invasion etwa 18 Millionen Bäume.
Afrins Flora ist von großer Bedeutung: Zum einen sorgt sie für mehr Regen und mildes Klima im gesamten Nordwesten Syriens. Zum anderen sind die Früchte der seltenen Olivenbaumarten für die Menschen sehr nützlich. Auch die berühmte Aleppo-Seife wird in der Regel aus Olivenöl der Region hergestellt. So sind die Bäume wirtschaftliches Standbein, sind kulturelles Erbe und wichtig für das Klima.
[Der Autor]
Muhiddin Sheikhali ist Sekretär der Partei der Kurdischen Demokratischen Union in Syrien. Er musste im März 2018 aus Afrin fliehen und lebt zurzeit in der Stadt Qamischli im Nordosten Syriens.
[Info]
Aus dem Arabischen übersetzt von Dr. Kamal Sido.
Den Artikel finden Sie ebenfalls in der Ausgabe “323: Umwelt und Menschenrechte: Die Elemente der Natur” unserer Zeitschrift “Für Vielfalt”.