Wenn Träume wahr werden: Justin Trudeau und seine First Nations Politik

Seit zwei Monaten ist der kanadische Premierminister Justin Trudeau im Amt. Zwei Monate, in denen die indigenen Gemeinschaften in Kanada wieder anfangen konnten, zu hoffen. Es scheint, als hätte eine neue Ära der Möglichkeiten begonnen. Ein Kommentar der GfbV-Referentin für indigene Völker.

von Yvonne Bangert; Foto: Premier ministre du Canada via Flickr

Krasser kann ein Politikwechsel kaum sein. Gerade noch zogen Kanadas First People gegen eine Regierungspolitik von Premier Stephen Harper zu Felde, die ihre Rechte missachtete und selbst ihren Status als Ureinwohner infrage stellte. Dann betritt der junge Justin Trudeau mit einem Erdrutschsieg die politische Bühne und plötzlich werden lang gehegte Träume der First Nations, Métis und Inuit wahr. Wenige Wochen nach seinem Wahlsieg, der auch zehn indigene Abgeordnete und zwei indigene Minister zu Ämtern und Würden brachte, verkündete Trudeau am 8. Dezember 2015 die Einrichtung einer staatlichen Untersuchungskommission über das Schicksal von mindestens 1.200 in den vergangenen drei Jahrzehnten vermissten und ermordeten indigenen Frauen und teils sehr jungen Mädchen. Die Vorarbeiten haben schon begonnen. Im Sommer 2016 soll die Kommission ihre Arbeit aufnehmen und dabei endlich auch die Angehörigen der Opfer einbeziehen. Sie fühlten sich bislang von der Regierungspolitik nicht ernstgenommen. Premier Harper hatte seinerzeit deutlich zu erkennen gegeben, dass die Frage sexueller Gewalt gegen eine so deutlich an der ethnischen und sexuellen Zugehörigkeit festzumachende Opfergruppe nicht gerade an oberster Stelle seines Interesses stand. Eine Kommission, die diesem Phänomen landesweit nachgehen und Ursachenforschung betreiben soll, hielt er nicht für nötig.

Dabei mangelte es nicht an Fakten. Human Rights Watch, der Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, deren Sonderberichterstatter zu den Rechten indigener Völker James Anaya, die Inter American Commission on Human Rights, Amnesty International und auch die Native Women Association of Canada legten umfassende Berichte über das Schicksal der „stolen sisters“ vor. Sogar die kanadische Bundespolizei RCMP belegte mit einem eigenen Bericht, dass die Problematik der Gewalt an den indigenen Frauen dringend größerer Beachtung bedarf, umfassender Reformen im Polizeiapparat und einer Ausbildung der Beamten, die auch auf den Umgang mit den spezifischen Problemen ethnischer Minderheiten ausgerichtet ist. Denn immer wieder werden Vorwürfe laut über Desinteresse der Polizei gegenüber den indigenen Opfern, unnötige Verzögerungen bei der Bearbeitung von Vermisstenanzeigen ihrer Angehörigen oder sogar über eine mögliche Täterschaft einzelner Polizisten.

2014 löste der Mord an der 15-jährigen Tina Fontaine, die zur Sagkeeng-First Nation gehörte, in Kanada erneut die Diskussion über die unverhältnismäßig hohe Zahl von verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen aus.

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Die Behauptung, die Frauen machten sich durch Alkohol- oder Drogenkonsum und Prostitution selbst angreifbar, seien also quasi selbst Schuld an ihrer Situation, macht das Opfer zum (Mit-)Täter und übersieht die Hintergründe. Die indigene Bevölkerung Kanadas ist zutiefst traumatisiert. Mehrere Generationen wurden von 1876 bis zum Ende des 20. Jahrhunderts in 130 Internatsschulen in ganz Kanada verschleppt, die im Auftrag des Staates von Kirchen betrieben wurden, vor allem – aber bei weitem nicht nur – von der Katholischen Kirche. Dort sollte ihnen das Indigener-Sein notfalls mit Gewalt ausgetrieben werden. „To take the Indian out of the Child“ (frei übersetzt „dem Kind den Indigenen austreiben“) wurde das genannt. Mindestens 3.200 der insgesamt 150.000 Kinder überlebten die Trennung von ihren Familien, das Verbot der eigenen Sprache und Kultur und die oft erbärmlichen Lebensbedingungen in den Schulinternaten nicht. Sie starben an Tuberkulose, kamen bei Fluchtversuchen um oder nahmen sich sogar selbst das Leben. Der Bericht einer Kommission für Wahrheit und Versöhnung, noch unter Premier Harper eingesetzt, geht von einer hohen Dunkelziffer aus und meint, mindestens die doppelte Opferzahl wenn nicht noch mehr seien wahrscheinlich. Jedoch gingen viele Unterlagen der Schulen verloren, sodass der Nachweis schwierig ist. Die Überlebenden dieses brutalen Systems sind oft traumatisiert, leiden unter Alkohol-und Drogenmissbrauch, geringem Selbstwertgefühl und tragen das Trauma von Generation zu Generation weiter.

Vor kurzem hat die Kommission für Wahrheit und Versöhnung nun ihren Abschlussbericht vorgelegt. Er enthält 94 Empfehlungen, unter anderem zu Schullehrplänen, Juristenausbildung und einer Reform des Wohlfahrtssystems. Premier Trudeau hat diesen Bericht als eine der ersten Handlungen seiner Regierung akzeptiert und die Umsetzung aller Empfehlungen zugesagt. Das Verhältnis Kanadas zu seinen Ureinwohnern habe für seine Regierung oberste Priorität. Manchmal werden Träume eben auch wahr.

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[Zur Autorin]

YVONNE BANGERT ist seit mehr als 30 Jahren für die GfbV in Göttingen tätig, zunächst als Redakteurin der Zeitschrift “pogrom“ und der Internetseiten, seit 2005 als Referentin für indigene Völker.

5 Gedanken zu “Wenn Träume wahr werden: Justin Trudeau und seine First Nations Politik


  1. Das ist genau auch die Politik der Australier bis heute, mit den Aborigines.
    Hat das was mit Commonwealth of Nations zu tun? Wie kann diese rückständige Politik erklärt werden? Australien ist ja in vielem noch ein Kolonialstaat. Die Tatsache des relativen Reichtums transportiert sie in die G20, was vieles übersehen lässt.
    Was aber ist in Kanada los gewesen? Wieso sind die Indigenen immer noch Außenseiter?
    Was ist los in USA? Wird da auch nur gekonnt verschleiert?


    • Lieber Georg, nein hat es nicht. Die Grundlage der rechtlichen Situation der First Peoples (First Nations, Inuit und Metis) in Kanada bilden die Verträge zwischen der britischen Krone und den First Nations während der Kolonisierung Kanadas und die daraus entstandenen Gesetze. Kanada ist Mitglied im Commonwealth of Nations, hat sich aber schon Anfang der 1980er Jahre durch die sogenannte „Heimholung der Verfassung“, die bis dahin ein britisches Gesetz gewesen war, auch verfassungsrechtlich selbständig gemacht. Die Aboriginal Australianas haben solche völkerrechtlich verbindlichen Verträge -anders als die indigenen Völker Kanadas oder auch Neuseelands- nicht. Warum die indigenen Völker in Kanada und den USA nach wie vor diskriminiert werden? Da gibt es viele Mechanismen wie Rassissmus der „weißen“ Mehrheit, Traumatisierung vieler indigener Völker durch Kindesentzug, Zerstörung der kulturellen Basis durch Zwangsassimilierung in Internatsschulen, Wirtschaftsinteressen an den Rohstoffen auf oder unter dem Land der Indigenen und anderes, das mit Australien vergleichbar ist. Aber durch die historischen Verträge, die nach wie vor gültig sind, können sich die indigenen Völker in Nordamerika wesentlich besser zur Wehr setzen, als die Aboriginal Peoples in Australien. Zum näheren Hintergrund empfehle ich die Lektüre der Ausgabe der GfbV-Zeitschrift bedrohte Völker-pogrom Nr. 288 „Indianer in Nordamerika: Stark, selbstbewusst und ungebrochen“ aus dem vergangenen Jahr, die auf diese Fragen ausführlich eingeht. Herzliche Grüße, Yvonne, GfbV-Referentin für indigene Völker

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