Stolen Sisters: Verschwundene indigene Frauen in Kanada

Der Mord an einem nur 15 Jahre alten indigenen Mädchen der Sagkeeng-First Nation hat in Kanada erneut die Diskussion über ein Thema angefacht, das von der Regierung schon viel zu lange ignoriert wird: die unverhältnismäßig hohe Zahl von verschwundenen und ermordeten indigenen Frauen.

von Céline Sonnenberg und Carmen Ludat; Foto: glassghost/flickr

Die Zahl der verschwundenen indigenen[1] Frauen in Kanada ist erschreckend hoch. Seit  1980 wurden etwa 1.200 indigene Frauen in Kanada als vermisst gemeldet. Obwohl sie nur 4,3 Prozent der weiblichen kanadischen Bevölkerung stellen, sind 11,3 Prozent der vermisst gemeldeten Frauen indigen. Ihr Anteil unter den weiblichen Mordopfern ist sogar 16 Prozent. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Die Dunkelziffer könnte weitaus höher sein, denn die kanadische Regierung und die kanadische Polizei versäumen es immer wieder, einen wirklichen statistischen Überblick zu schaffen, der zur zukünftigen Vermeidung dieser Verbrechen unerlässlich wäre. Vor allem das Versäumnis der kanadischen Polizei, die ethnische Zugehörigkeit der verschwundenen Frauen zu erfassen, erschwert es, zuverlässige Statistiken zu erheben. Besonders dramatisch ist zudem, dass 47 Prozent der Verbrechen, die gegen indigene Frauen begangen werden, bis heute nicht aufgeklärt sind. Die Aufklärungsquote  von Gewaltverbrechen  im nationalen Durchschnitt hingegen liegt bei 83 Prozent.

Foto: Michael Thibault/Flickr

Der Mord an der 15-jährigen Tina Fontaine löste eine landesweite Debatte aus

Nicht zuletzt der Mord an der 15-jährigen Tina Fontaine, die zur Sagkeeng-First Nation[2] gehört, hat in Kanada erneut eine Diskussion über dieses Thema entfacht. Ein Thema, das von der Regierung schon viel zu lange ignoriert wird. Tinas Leiche wurde am 17. August 2014 von Tauchern in einem Plastiksack auf dem Grund des Red River in Winnipeg, der Hauptstadt der kanadischen Provinz Manitoba, gefunden. Die Empörung über den Mord an einem so jungen Mädchen und die Entsorgung ihres toten Körpers, als wäre er nichts weiter als lästiger Müll, gingen Hand in Hand mit der erneuten Forderung nach einer staatlichen Untersuchungskommission über die vielen indigenen Frauen, die in den letzten Jahrzehnten überall in Kanada verschwunden und Opfer von Gewaltverbrechen geworden sind. Auch die schändlich unterlassene Hilfeleistung der staatlichen Behörden sorgt für große Wut in den indigenen Gemeinden.

Tina Fontaine – Facebook

Die Tatsache, dass Tina in der Nacht vor ihrer Ermordung von etlichen staatlichen Mitarbeitern in offensichtlich gefährlichen Situationen wahrgenommen, aber immer wieder allein gelassen worden war, macht ihren Tod noch tragischer. Am 8. August 2014 nahmen Polizisten bei einer Routinekontrolle  den Fahrer eines Autos, in dem auch Tina saß, fest. Tina wurde nach der Kontrolle sich selbst überlassen, obwohl für sie bereits eine Vermisstenmeldung vorlag. Im weiteren Verlauf der Nacht wurde das junge Mädchen stark betrunken in einer Seitengasse aufgefunden und in ein Krankenhaus gebracht. Nach zwei Stunden kam eine  Sozialarbeiterin in das Krankenhaus, um Tina nach Hause zu bringen. Allerdings musste  sie zuerst nach der Adresse von Tina suchen, und fuhr  zunächst zu ihrem Büro. Tina blieb allein zurück und war bei der Rückkehr der Sozialarbeiterin verschwunden. Sie sollte die Letzte sein, die Tina lebend sah; neun Tage später wurde die Leiche des Mädchens aus dem Red River gefischt.

Die Verbrechen sind symptomatisch für einen systematischen Rassismus

Dies ist bei weitem nicht der einzige Fall von unterlassener Hilfe oder schludriger Polizeiarbeit. Die hohe Anzahl der vermissten und ermordeten indigenen Frauen ist kein Zufall, sondern Ausdruck eines systematischen Rassismus. Vermisstenanzeigen von indigenen Frauen werden oft weniger intensiv untersucht. Stattdessen stempeln die Beamten die indigenen Vermissten häufig als drogen- oder alkoholabhängig oder als Prostituierte ab. Darüber hinaus wird die Gewalt an indigenen Frauen oft als ein Problem der häuslichen Gewalt abgetan, was der Realität nicht gerecht wird. Ein Großteil der Täter ist kein Mitglied der indigenen Gemeinschaften. Generell überwacht die kanadische Polizei die Indigenen, anstatt eine sichere Umgebung zu schaffen und sie zu schützen.

Auch bei den Tätern spielt Rassismus eine große Rolle. Übergriffe auf Indigene erscheinen ihnen weniger schlimm, als auf nicht-indigene Frauen. Zum einen dient das sexualisierte Bild der willigen indigenen Frau, ein Vermächtnis der Kolonialherrschaft, als Mechanismus, mit dem die Täter die Verantwortung für ihr Handeln von sich schieben. Zum anderen macht der Rassismus die indigenen Frauen zu leichten Opfern. Die Täter wähnen sich angesichts der wenigen Verurteilungen für Verbrechen an indigenen Frauen in Sicherheit. Zahlreiche indigene Frauen wurden in den letzten Jahren vor Bars, Restaurants und auf Straßen entführt, brutal verprügelt, sexuell missbraucht und ermordet. In vielen Fällen werden ihre Leichen in Gräben und im Unterholz zurück gelassen, verscharrt, zerstückelt, oder in Seen und Flüssen versenkt.

Aktivisten fordern eine landesweite Untersuchung der Verbrechen

Der von indigenen Anführern und Menschenrechtsorganisationen, wie der Native Women Associaton of Canada (NWAC) und Amnesty International Kanada, schon lange geforderten bundesweiten Untersuchung der zahlreichen Fälle, steht zurzeit vor allem die konservative kanadische Regierung entgegen. Selbstorganisationen betroffener Gemeinschaften wie die No More Stolen Sisters, die Justice for Missing and Murdered Women, das Stolen Sisters Awarenes Movement sammeln Fakten und versuchen aufzuklären. Trotz verschiedener großer Reporte, wie dem Sisters in Spirit der NWAC, sowie Amnesty International Kanada und dem regelmäßig am 14. Februar stattfindenden Women´s Memorial March, gibt es keine neuen Entwicklungen.

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Dabei hat sogar die  Bundespolizei RCMP in einem Bericht erschütternde Fakten belegt. Ungeachtet dieser erschreckenden Fakten widersprach der kanadische Justizminister Peter MacKay den Forderungen nach einer bundesweiten Untersuchung der Fälle. Die Regierung widme sich dem Problem bereits mit verschiedenen Projekten zur Herstellung von Gerechtigkeit und einem geplanten nationalen DNA-Index für vermisste Personen. Dieser Index soll die DNA von unidentifizierten Leichen und von persönlichen Gebrauchsgegenständen von vermissten Personen aufnehmen und diese mit der nationalen DNA-Datenbank abgleichen. Auch der Premierminister Kanadas, Stephen Harper, lehnt die Initiative ab, die Fälle landesweit zu untersuchen. „Wir sollten dies nicht als ein soziologisches Phänomen betrachten. Wir sollten es als Verbrechen ansehen“, so seine Begründung.

Dass diese Aussagen wie ein Schlag ins Gesicht der indigenen Bevölkerung Kanadas sind, ist offensichtlich. Die schlechte Polizeiarbeit, der geringe Respekt und die niedrige Gewaltschwelle gegenüber indigenen Frauen machen es für sie dreimal wahrscheinlicher, Opfer von Gewaltverbrechen zu werden, als für Frauen anderer ethnischer Abstammungen. Dabei nicht von einer soziologischen Problematik zu sprechen ist blanker Hohn.

Indigene Frauen sind stärker von Armut und Arbeitslosigkeit betroffen

Die schlechten Lebensumstände vieler indigener Frauen sind letztendlich nicht der Grund für ihr Verschwinden. Vielmehr haben  vorangehende Traumata sowie die erschreckende Armut, die ein Vermächtnis der kolonialen Enteignung von Land und Ressourcen darstellt, die Frauen erst in eine solche gefährliche Lebenssituation getrieben. Indigene Frauen sind stärker von problematischen Wohnsituationen, Arbeitslosigkeit und einem geringeren Bildungsstand betroffen als andere kanadische Frauen. Daher bleibt vielen keine Alternative als Prostitution, Obdachlosigkeit und Drogensucht. Der ehemalige Präsident der First Nations, Phil Fontaine, erklärt: „Unsere Frauen werden wegen der zermürbenden Armut auf die Straßen von Vancouver gezwungen, und sie sterben inmitten eines Landes, das so viel Wohlstand genießt.“

88 Prozent der vermissten Frauen sind Mütter. Ihr Verlust reißt tiefe Lücken in die Familien und beeinflusst so die indigenen Gemeinschaften über Generationen. Professionelle Hilfe um mit diesen traumatischen Verlusten umzugehen, gibt es fast nie.

Foto: Michael Thibault/Flickr

Polizisten müssen für die Problematik sensibilisiert werden

Viele Aktivisten erkennen die unverhältnismäßige Gewalt und Gefahr, der sich indigene Frauen ausgeliefert sehen. Es ist ein nationales Problem, das ohne eine Änderung der rassistischen Strukturen und insbesondere ohne eine Verbesserung der Polizeiarbeit nicht zu lösen sein wird. Dies kann durch eine bessere Ausbildung der Polizisten, in der sie für diese Problematik sensibilisiert werden, erreicht werden. Sinnvoll wäre es darüber hinaus, Protokolle für Fälle von vermissten indigenen Frauen zu erstellen, an die Polizisten sich halten müssen. Somit könnte verhindert werden, dass Polizisten aus rassistischen Motiven oder Unwissenheit, wie sie adäquat mit der Situation umgehen sollen, Fehler machen. Auch mehr indigene Polizisten wären hilfreich. Und es müssen  Maßnahmen getroffen werden, die es ermöglichen, Polizisten bei Fehlverhalten zur Verantwortung zu ziehen.

Eine bundesweite Untersuchung der Fälle scheint dafür unumgänglich. Der Unwille der Regierung und ihre Haltung, diese Menschenrechtskatastrophe im eigenen Land einfach zu ignorieren, erscheinen beinahe anmaßend. Besonders Kanadas Auftreten in der internationalen Politik als Verfechter der Menschenrechte wirkt zynisch, während die Regierung zugleich weder den Vertrag der Vereinten Nationen gegen Gewalt an Frauen unterzeichnete, noch mit der ILO 169 den einzigen Vertrag über die Rechte indigener Völker ratifiziert hat.[3]

„Das ist kein indigenes Thema. Es ist ein kanadisches Thema.“

Es ist dringend notwendig, die Marginalisierung von indigenen Frauen zu stoppen und ihnen ein Mitspracherecht in Belangen einzuräumen, die ihr Wohlergehen betreffen. Auch sollten endlich ernsthafte Versuche unternommen werden, die erschütternde Armut, der viele Indigene ausgesetzt sind, zu beseitigen und sichere Wohnbedingungen zu schaffen.

Ein weiterer Schritt wäre es, indigenen Gemeinschaften und insbesondere den Frauenhäusern für Indigene den gleichen Anteil an finanziellen Mitteln zu bewilligen wie er dem Rest der Bevölkerung Kanadas zur Verfügung steht. Claudette Dumont-Smith, Leiterin der Native Women’s Association of Canada, erklärt: „Das ist kein indigenes Thema. Es ist ein kanadisches Thema. Es ist eine Schande für Kanada, dass beinahe jeden Monat unschuldige Leben genommen werden.“ Wie lange Kanadas Regierung die Augen vor diesem Problem verschließen will und wie viele unschuldige Mädchen und Frauen noch sterben müssen, bevor eine Änderung der Strukturen in Angriff genommen wird, sind Fragen, die schwer auf den Schultern von Kanadas indigener Bevölkerung lasten. Der Zeitpunkt ist reif für eine landesweite Untersuchung. Die Nation scheint durch den Mord an der 15-jährigen Tina und durch die unterlassene Hilfe der kanadischen Polizei wachgerüttelt. Es wird Zeit, dass auch Premierminister Harper endlich aufwacht.

[1] Der Begriff Indigene umfasst in Kanada die indianischen First Nations, die Métis und die Inuit.

[2] Die Sagkeeng First Nation gehört zu den Anishinabwe/Ojibwe und lebt östlich des Lake Winnipeg in Manitoba, Kanada.  Im Reservat Sagkeeng, früher als Fort Alexander bekannt, leben etwa 3.300 Menschen.

[3] Die UN-Deklaration der Rechte indigener Völker hat Kanada nach anfänglicher Ablehnung zwar unterzeichnet, setzt sie aber nicht in der eigenen Gesetzgebung um.

[Zu den Autorinnen]

CÉLINE SONNENBERG und CARMEN LUDAT sind beide momentan Praktikantinnen im Referat für indigene Völker.

6 Gedanken zu “Stolen Sisters: Verschwundene indigene Frauen in Kanada

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