Gleis 17: „Dunkelste Vergangenheit spürbar“

GfbV-Vorstandsmitglied Kurt Weber besuchte anlässlich der GfbV-International-Tagung gemeinsam mit anderen GfbV-Mitarbeitern und Vorstandsmitglieder die Gedenkstätte „Gleis 17“ in Berlin. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden von Gleis 17 des Bahnhofs Grunewald zehntausende deutsche Juden deportiert. Seine Eindrücke des Besuchs beschreibt Weber in diesem Prosagedicht.

von Kurt Weber; Foto: Kurt Weber

Gleis 17

Gusseiserne Gitter
halten den Boden gefangen
als wollten sie furchtbare Vergangenheit einsperren
oder Historie vor den Fußtritten Lebender schützen
metallene Inschriften:
… 6.7.1942 / 100 Juden / Berlin-Theresienstadt,
… 9.12.1942 / 1000 Juden / Berlin – Auschwitz,
… 18.4.1944 / 30 Juden / Berlin – Auschwitz, …
Formeln
entnommen der Buchhaltung des Grauens
„Datum / Anzahl Juden / Abfahrtort – Bestimmungsort“
– verkürzte, technokratische Bilanzen des Unfassbaren
keine Notiz, kein Raum für Würde
der endlos vielen
Einzelnen

Theresienstadt – ein wohlklingender Name, der Gutes verspricht
Auschwitz – so könnte ein belangloses Dorf im Nirgendwo heißen

Auf diese rein funktionale, simple Bahnanlage
prallt dunkelste Vergangenheit
spürbar
erschütternd paart sich
das Wissen von Ungeheuerlichem
mit dem Wissen zu sein, wo es geschah

Prellblöcke der Gleise
berichten von der Ankunft leerer Züge
wie auf jedem Bahnhof
damals
kreischten Bremsen
hässlich, aber vertraut
wie zu Beginn einer Urlaubsreise
oder Geschäftsreise
oder Verwandten-Besuch
kreischten schmerzhaft schrill
immer wieder
an diesem Gleis
schreiend
gequältes Eisen
verkündete
den Beginn von Höllenfahrten
hier
verrichteten Eisenbahner Ihr Werk
pflichtgemäß

Maroder Backsteinkubus
heute mit zugemauerten Fenstern
war er Kontrollraum?
dort saß man im Warmen
dort hatte man Überblick
er überstand die Bombennächte
und den Endkampf Mann gegen Mann
– verfallendes Symbol
das an der Zeit scheitert

Dort war man nah dran
erschütterungsnah
hätte den Bedrängten
in die Augen schauen können
beobachtete von oben
sah herab
sah stigmatisierte Fremde
Zeichen auf der Brust
sah Gruppierungen
leugnete den Nachbarn
vielleicht gar verblendet
sah man keine Menschen
nur Fremdes
– oder schaute weg

Ich versuche das Grauen zu erspüren,
das Leiden endlos Vieler
deren letzte Reise an diesem Ort begann
in meiner Vorstellung sehe ich Silhouetten, Schatten
Grau in Grau, sprachlos
doch wird es ein Lärmen gewesen sein
Familien, Menschengruppen,
zusammengetrieben
unter den schneidenden Befehlen von Polizei, Gestapo, SS und Helfern
dem Bellen scharfer Hunde
Tritte, Stolpern, sich gegenseitig halten,
nur nicht die Kinder verlieren
durch den Tunnel
die vielen Stufen hinauf
angstgepeinigtes Keuchen, Hast
Antreten!
Durch die Wagontüren zwängen
die sich rumpelnd schließen,
von außen verbarrikadiert
Dunkelheit, Warten
Wohin? Was wird? Wie kann es sein?
Die Nächsten umarmen,
die Kinder trösten
selber trostlos

Männer, Frauen, Kinder, Jugendliche, Säuglinge, Gebrechliche, Alte
zusammengepresst in Viehwaggons
drückende Angst und Ungewissheit
erbarmungslose Tage finster wie Alptraumnächte
schlaflose Nächte wie lichtlos kalte Tage
man raubte ihnen ihr Liebstes, ihre Liebsten,
ihr Hab und Gut, ihre Heimat, ihre Geschichte
suchte ihnen das Menschsein zu nehmen
einzig schenkte man ihnen eine winzige Illusion:
dass ihr Leben weitergehe
im Irgendwo
dies machte sie wehrlos

Am Ausgang der Plattform
verzweigt eine Weiche
lotst in die Ferne
zweifach
sie bot den Verzweifelten keine Alternative
es gab nur
eine
gnadenlose Bestimmung:
Stoß auf Stoß
rhythmischer Räderschlag
getrieben von keuchenden Kesseln
dem  unsichtbaren Horizont entgegen
verfrachtet wie Kohle
ohne Wiederkehr
von Rampe zu Rampe

Jenseits des Horizonts
jenseits jeglichen Mitgefühls
unsäglich
hinter Wachtürmen
und unüberwindbaren Lagerzäunen
verbrüderten sich Dampf- und Rauchwolken
eilfertiger Lokomotiven
kameradschaftlich
dem beißenden Qualm
hektisch befeuerter Krematorienöfen

Gleis 17

Aneinandergedrängt an der Rampe
vier Kränze
Farbflecken leuchtend lockender Blüten
Erinnerungsritual
gut gemeint
in ohnmächtigem Tannengrün
und unpassender Buntheit
isoliert in diesem Grau einer Schicksalsbrache

Sträucher und Bäume überwuchern
marode Schwellen und rostende Schienen
lebendige Natur nimmt sich respektlos Platz,
wo früher abgefertigt wurde,
wo Befehle herrschten
und Lebendigkeit verboten war
und auch heute noch unpassend ist

Wie im Schmerz
krümmt sich die Liane einer Waldrebe
niedergefallen aufs Gleis
haltlos
bedeckt das rostende Eisen
Schmückt es mit silbern glänzenden, weißgrauen Fruchtständen
Verblühte Trauersterne
deren gefiederte Samen
den Schotter bedecken
wie Gedenken
um zu überwintern
um wie kleine Seelen
vom Wind weit fortgetragen zu werden
als beschirmte Erinnerung dieses Ortes
in ein neues, fernes Leben

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