Erinnerung und Anerkennung – Tscherkessen zwischen Gestern und Morgen

Tscherkessen. Wenn jemand von diesem kaukasischen Volk gehört hat, dann wahrscheinlich während der Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014. Dort war einst ihre Heimat, aus der sie im 19. Jahrhundert deportiert wurden. Bis heute kämpfen die Nachfahren der Vertriebenen um Anerkennung der Verbrechen. Doch das Erinnern wird in Russland zum politischen Tauziehen.

von Jonas Eichhorn; Foto: Wikimedia Commons

Als die Polizei Ruslan Kesh am Abend des 23. Mai 2015 im nordkaukasischen Maikop festnahm, war ihm schnell klar, worum es geht: Ruslan ist tscherkessischer Aktivist und Koordinator der „Union der Tscherkessen“. Auch die Polizisten gingen offen damit um, warum sie ihn kurzzeitig festgehalten hatten. Seine politischen Aktivitäten für die Tscherkessen stören die Verantwortlichen vor Ort. An jenem Abend wollte er sich mit einem anderen Aktivisten treffen, der Mitglied einer tscherkessischen Delegation war, die aus der Türkei und Deutschland nach Maikop angereist war.

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Die weltweite tscherkessische Bewegung ist erwacht und wird seit Jahren lauter. Sie alle verbindet der Schmerz und die Sehnsucht nach ihrer Heimat.

Maikop liegt im Süden Russlands, nicht weit von der georgisch-russischen Grenze entfernt. Es ist die Hauptstadt der autonomen Republik Adygeja innerhalb der Russischen Föderation. Der tscherkessische Bevölkerungsanteil ist hier mit 25% der Einwohner hoch. Daher lag Maikop auch auf dem Weg der tscherkessischen Delegation, mit der sich Ruslan Kesh treffen wollte und die sich am 18. Mai 2015 aus Istanbul und Ankara auf den Weg gemacht hatte. Denn die Delegation reiste symbolisch in die Vergangenheit: Am 21. Mai 1864, der Tag, an dem die russisch-kaukasischen Kriege offiziell zu Ende gingen, begann die kollektive Vertreibung der Kaukasus-Völker. Rund 1.000.000 Tscherkessen wurden vom Zarenreich aus über das Schwarze Meer ins Osmanische Reich zwangsverschifft. Auf dem Weg in die Türkei kamen tausende von ihnen ums Leben; verhungerten, ertranken auf der Überfahrt im Schwarzen Meer oder an den Folgen der grausamen Deportationen durch die Zarenarmee. Die Nachfahren der Opfer leiden bis heute an den nicht aufgearbeiteten Verbrechen. Mehr als 100 von ihnen stiegen im Mai 2015 in mehrere Bussen und reisten in den Nordkaukasus. Die Nachfahren der Vertriebenen wollten die Orte besuchen, die bei der Deportation der Tscherkessen 1864 eine Rolle gespielt hatten.

Wider dem Vergessen: Teilnehmer der Delegation gedenken der Deportationen am Mahnmal in Tscherkessk in Russland am 23. Mai 2015.

Auf dem Weg lagen außer Maikop die türkische Stadt Samsun an der Schwarzmeerküste sowie Nalchik und Tscherkessk in Russland. „Die Beweggründe für diese Reise waren vielfältig. Wir wollten den Tscherkessen in der Heimat, also in der Russischen Föderation, ein deutliches Zeichen geben, dass wir sie nicht vergessen haben und sie mit dieser Initiative moralisch unterstützen“, sagt Inal Tamzok, Vorstandsmitglied des Tscherkessischen Kulturvereins in Hannover und ein Teilnehmer der Reise. Die Gruppe besuchte mehrere Gedenkmonumente und Museen, die an die Deportationen von 1864 erinnern, und traf sich mit Vertretern der tscherkessischen Minderheit in Russland. Einer der bewegendsten Momente für viele Teilnehmer der Reise war dabei die Gedenkveranstaltung an die Deportation am 21. Mai in Tscherkessk. „Vielen unserer Mitreisenden standen Tränen in den Augen“, erzählt Tamzok und erwähnt, dass die Kundgebungen an diesem Gedenktag seit Jahren immer größer und beeindruckender würden.

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Junge Tscherkessen demonstrieren am 21. Mai 2015 vor der russischen Botschaft in Jordaniens Hauptstadt Amman für die Anerkennung des Genozids.

Die Reise der Delegierten aber allein als Streifzug in die Geschichte abzutun, würde dem Ganzen nicht gerecht werden. Natürlich wäre sie einerseits dem Erinnern gewidmet gewesen, resümierte Tamzok. Es liegt ihm jedoch auch am Herzen zu betonen, dass sie die russischen Behörden und die russische Öffentlichkeit auf die tscherkessische Minderheit in Russland aufmerksam machen wollten. „Unserer Meinung nach haben wir als Tscherkessen langfristig nur in unserer Heimat die Chance, als Volk und Kultur bestehen zu bleiben. Die Rückverbindung mit der Heimat und deren demokratischer, wirtschaftlicher und kulturelle Aufbau liegen uns sehr am Herzen.“

Ein wichtiger Schritt für die Wiederbelebung tscherkessischer Kultur in Russland wäre es, wenn die Verbrechen gegen die Tscherkessen klar benannt werden würden. In den letzten Jahren ist die Bewegung mit dem Ziel der Anerkennung dieser Deportationen als Genozid stetig gewachsen. Georgien war dabei der erste Staat, der diesen Forderungen nachkam. Zudem wurden tscherkessische Vertreter erst kürzlich mit ihrem Anliegen vom estnischen Parlament empfangen. Auch besteht die Hoffnung, dass sich in der Ukraine einige wichtige Politiker für die Anerkennung des Genozids an den Tscherkessen einsetzen werden.

Im russischen Nalchik demonstrierten Tscherkessen am 21. Mai 2015 für ihre Erinnerungen. Auch 151 Jahre nach den Verbrechen warten tscherkessische Nachfahren auf die Anerkennung der Verbrechen.

In Russland ist man von einer Anerkennung weit entfernt. Das zeigt unter anderem die Wahl Sotchis als Austragungsort der Olympischen Winterspiele 2014. Die Stadt gilt vielen Tscherkessen als ihre letzte Hauptstadt, da hier einst das tscherkessische Parlament seine Entschlüsse fasste. Doch das schien die russische Regierung nicht zu interessieren. Mit keinem einzigen Wort war im Vorfeld oder im Verlauf der Winterspiele das Schicksal der Tscherkessen von offizieller russischer Seite erwähnt worden. Keine einzige offizielle Gedenktafel oder ein Denkmal erinnern im heutigen Sotchi an die Deportation der Tscherkessen. Ganz im Gegenteil.

Inal Tamzok ist davon überzeugt, dass die Vertreibung der Tscherkessen im 19. Jahrhundert in der russischen Öffentlichkeit, wie auch im Geschichtsunterricht, verfälscht dargestellt wird. Daher sei es umso wichtiger, Solidarität mit den in Russland lebenden Tscherkessen zu zeigen. Vor allem auch mit denen, die sich aktiv für eine Anerkennung des einsetzen. So wie Ruslan Kesh. Wegen seines Engagements wird Ruslan – wie andere gleichgesinnte Aktivisten – von Treffen ferngehalten, von der Polizei festgesetzt und seine Aktivitäten mit vielen Mitteln erschwert. Am 23. Mai war das russische Prinzip erfolgreich: Pünktlich um Mitternacht, vom 23. auf den 24.Mai, ließen die Polizisten Kesh wieder frei. Da waren die Vertreter der tscherkessischen Diaspora und Teilnehmer der Reise entlang tscherkessischer Erinnerungsorte, die er treffen wollte, gerade wieder abgereist.

[Zum Autor]

JONAS EICHHORN leistete seinen Zivildienst bei der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau und studierte anschließend in Heidelberg Osteuropa- und Ostmitteleuropastudien. Im Moment ist er Praktikant im GUS-Referat der GfbV im Berliner Büro.

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