Oft hören wir in den Nachrichten von den Gräueltaten der Terrormiliz IS. Mittlerweile kommen auch immer wieder Berichte über den Krieg gegen den IS dazu. Doch was ist mit den Opfern des „Islamischen Staates“? Und was passiert, wenn die Städte und Dörfer wieder befreit wurden? Jan Gehm war mit weiteren Interessierten und Helfenden im Mai im Nordirak unterwegs, um sich ein Bild vor Ort zu machen und mit den Menschen zu sprechen, deren Leben seit den Eroberungen des IS geprägt sind von Flucht und Leid.
von Jan Gehm; Foto: Jan Gehm
„Dieses Gebäude gehört dem Islamischen Staat“. Immer wieder lesen wir diese Schriftzüge an Häuserwänden. Manchmal steht auch nur „Islamischer Staat“ an den Wänden. Und auf der Tür einer Kirche steht „Kein Platz für das Kreuz im islamischen Land“. In der Kirche selbst lassen sich ähnliche Schriftzüge finden, allerdings in Deutsch verfasst. Ausgebrannte Häuser, Trümmer auf der Straße und eingestürzte Wände prägen das Stadtbild. Die christliche Stadt Batnaya im Nordirak ist eine Geisterstadt. Die Stadt, in der früher 850 christliche Familien lebten, wurde 2014 vom sogenannten Islamischen Staat (IS) eingenommen. Erst über zwei Jahre später, im November 2016, konnten die irakische Armee und die kurdischen Peschmerga einige der vom IS besetzten Dörfer rund um die Region Mossul im Norden des Iraks zurückerobern.
Eine Rückkehr nach Batnaya für die geflohenen christlichen Familien ist vorerst nicht möglich. Die Stadt ist völlig zerstört und muss neu aufgebaut werden. Die Luftschläge der Amerikaner, die den IS aus der Stadt vertreiben sollten, haben ihre Spuren hinterlassen. Ein Soldat, der zu einer christlichen Miliz gehört, führt uns durch die Reste der Stadt. Er erklärt uns, dass er an der Befreiung mit beteiligt gewesen war und zeigt uns ein Facebook-Video, in dem seine Kollegen beim Wiederaufstellen des Kreuzes auf der Kuppel der Kirche zu sehen sind. Es ist eine symbolische Geste. Das christliche Leben in Batnaya kann erst wieder erwachen, wenn die Wasser- und Stromversorgung und eine neue Infrastruktur geschaffen wurden. Und falls sich die Politik einigt. Denn das Gebiet, in dem Batnaya liegt, gehört zur umstrittenen Region. Bisher sind sich die irakische Zentralregierung und die kurdische Regionalregierung uneinig, wer die Verwaltung in der Region um Mossul übernehmen soll.
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Einen kleinen Schritt weiter beim Wiederaufbau sind die Menschen im Dorf Baschiqa, das ebenfalls im November 2016 vom IS befreit wurde. Viele Gebäude sind zerstört, verbrannt und unbewohnbar. Bevor der IS das Dorf überfiel, lebten hier verschiedene Minderheiten wie Yeziden, Christen und Shabak. Heute sind es nur ein paar Menschen, die wieder zurückgekehrt sind. Aber immerhin, ein paar.
Das Dorf Baschiqa, wie auch das Dorf Batnaya, die wir besucht haben, gehört in die Landschaft der Ninive-Ebene. Einer Region, in der seit biblischen Zeiten Christen leben. Doch seit den Angriffen durch die IS-Dschihadisten sieht das Bild leider anders aus. Und trotz Befreiung der Region läuft die Rückkehr nur langsam oder auch gar nicht an. Der IS ist noch nicht vollständig aus dem Gebiet vertrieben und so fürchten sich die meisten Menschen davor, wieder vertrieben zu werden. Denn ihr Vertrauen ins Militär haben die meisten Christen, Yeziden oder Shabak verloren. Tief sitzt die Enttäuschung über die irakische Armee und die kurdischen Peschmerga. Vielmehr wünschen sich die meisten den Schutz der internationalen Gemeinschaft.
Eine von den Islamisten zerstörte Kirche in Baschiqa, in der Nähe von Mossul. Einige wenige Menschen sind bereits ins Dorf zurückgekehrt. Doch sicher fühlen sie sich nicht.
Foto: Jan Gehm
Bei dem Besuch einer verwüsteten Kirche wird das Ausmaß der Zerstörung durch die Islamisten einmal mehr deutlich. Auf einer Hauswand ist auf Arabisch zu lesen: “Der Islamische Staat bleibt bestehen”. Einer der letzten Spuren der Terrormiliz im Dorf. Und eine Warnung. Denn was passiert nach dem Sieg gegen den IS? Militärisch mag er in ein paar Monaten besiegt sein, ideologisch aber lange noch nicht. Das ist die Frage, die viele Menschen in der Region umtreibt. Ein Yezide aus dem Sindschar, den wir in einem Flüchtlingslager in den Gebieten um Dohuk treffen, teilt seine Angst mit uns. Vor der IS-Zeit hatte er mit seinem muslimischen Nachbarn ein friedliches Verhältnis. Man hatte sich gegenseitig zum Tee eingeladen und gute Beziehungen gepflegt. Doch mit dem Einmarsch des IS richteten sich die Waffen der Nachbarn gegen die Yeziden. Menschen sympathisierten plötzlich mit der grausamen Ideologie des IS und bekämpften die von den Dschihadisten so verhasste yezidische Minderheit. Wie sollte man mit ihnen wieder zusammenleben können? Und so haben viele Flüchtlinge Angst, nach einer Befreiung wieder in ihre Dörfer zurückzukehren, weil viele ihrer Nachbarn mit den IS zusammengearbeitet haben. Und so bleiben viele Geflüchtete lieber in der autonomen kurdischen Region im Nordirak.
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Aktuell gibt es laut offiziellen Angaben 127 Kirchen und 34 Schreine in der autonomen Region Kurdistan. Doch wird sich diese Zahl mit Sicherheit erhöhen, wenn man den Zuzug von Christen aus Bagdad und der Ninive-Ebene bedenkt. Das macht Kurdistan zur einzigen Region im Nahen Osten, in der sich die Zahl der Christen vergrößert. Allein in Erbil haben mittlerweile etwa 350.000 christliche Flüchtlinge Schutz vor Verfolgung und Terror gesucht. Der Nordirak bietet Christen eine Chance, die sie in anderen Gebieten, in denen sich der Einfluss der Islamisten vergrößerte, nicht mehr haben. Und die Region kann ihnen mehr Sicherheit bieten, da die Regierung stärker gegen Islamisten vorgeht als an anderen Orten. Beispielsweise wird Predigern, die Hasspredigten halten, die Erlaubnis zum Predigen entzogen. Trotzdem muss noch einiges für die Minderheiten im Land geschehen.
Yeziden, Christen und Shabak brauchen Sicherheit und Perspektiven, damit ein weiteres Zusammenleben möglich ist und sich die Fehler der Vergangenheit nicht wiederholen. Humanitäre Hilfe ist wichtig, aber es braucht auch langfristig politische Lösungen, damit Minderheiten in der Region weiterleben können und nicht endgültig ihre Heimat verlassen müssen. Und die Minderheiten brauchen die Solidarität der westlichen Staatengemeinschaft, damit sie nicht erneut zum Spielball lokaler Mächte werden. Denn die autonome Region Kurdistan hat Potenzial ein langfristiger Hafen zu sein, in dem sich Minderheiten sicher fühlen können.
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[Zum Autor]
JAN GEHM studiert Evangelische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. Verschiedene Studienaufenthalte führten ihn in die Türkei, den Libanon, nach Armenien und den Nordirak. Die Frage nach Minderheiten und Menschenrechten im Nahen Osten sind seitdem zu seinem Lebensthema geworden. Er ist seit diesem Jahr auch Mitglied der Gesellschaft für bedrohte Völker.