Am 15. September 2015 wurde ein Anschlag auf die neu restaurierte armenische “Surp Giragos” Kirche in Diyarbakir (Amed), der heimlichen Hauptstadt der Kurden in der Türkei, verübt. Es ist ein Rückschlag in einem langsamen Prozess, der eigentlich Hoffnung auf Versöhnung geben soll. Denn die Kirche war 2012 nach ihrer Restaurierung für Besucher und die armenische Gemeinde vor Ort wieder geöffnet wurden. Bei seinem Besuch in Diyarbakir Anfang des Jahres sprach GfbV-Nahostreferent Kamal Sido mit dem Aufseher Behçet Çiftçi der Kirche über das Gotteshaus, den Völkermord und das Verhältnis zwischen Kurden und Armeniern.
Foto: Julia Buzaud via Flickr
KS: Sie sind Aufseher der neu restaurierten armenischen “Surp Giragos” Kirche in Diyarbakir. Was genau bedeutet das?
[Çiftçi]: Ich passe auf die armenische Kirche auf – sozusagen bin ich der Sicherheitsdienst hier. Und ich erzähle Besuchern etwas über die Geschichte dieser Kirche. Wenn die Wände reden könnten, hätten sie einiges zu berichten. Die armenische Gemeinde erbaute die Kirche 1371. Somit ist sie eine der ältesten in Südostanatolien. 1915 wurde sie dann während des Völkermords an den Armeniern und anderen Christen des Osmanischen Reichs weitgehend zerstört. Nur einige Räume blieben in Takt. Die wenigen Armenier, die in Diyarbakir noch lebten, nutzen sie bis 1986 für Gottesdienste. Dann gab es keine Armenier mehr hier und die Kirche zerfiel nach und nach bis sie vollständig zu einer Ruine wurde. Vor nicht ganz zehn Jahren bildete sich eine Initiative unter Adbullah Demirbas[1], dem damaligen Bürgermeister von SUR, einem Stadtviertel von Diyarbakir, und Osman Baydemir, dem Oberbürgermeister von Diyarbakir – beide gehörten der damaligen pro-kurdischen Partei BDP an -, um die Kirche zu restaurieren. Es wurden Spenden gesammelt, vor allem von Armeniern in der Diaspora, in Armenien oder in Istanbul. 2009 begann dann die Restauration und 2012 gab die Stadtverwaltung in Diyarbakir sie wieder für Besucher frei. Seitdem wird die Kirche von einer lokalen armenischen Stiftung unterhalten.
KS: Finden in der Kirche denn auch Gottesdienste statt?
[Çiftçi]: Unser Patriarchat in Istanbul schickt uns zweimal im Jahr einen Priester und so finden zweimal jährlich Gottesdienste statt. Wir selbst haben noch keinen Priester. Dennoch wird die Kirche jeden Tag von Armeniern besucht. Wir wünschen uns, dass irgendwann ein Priester hierherkommt und dass hier regelmäßig Gottesdienste stattfinden.
KS: Also gibt es heute wieder Armenier in Diyarbakir?
[Çiftçi]: Ich kann von etwa 50 Armeniern reden, die sich als Armenier fühlen oder auch sich bewusst zum Armeniertum und Christentum bekennen. Ich vermute aber, dass unter den muslimischen Kurden viele mit armenischer Abstammung sind.
KS: Trifft das auch auf sie zu?
[Çiftçi]: Ja. Ich bin in einem muslimischen Haushalt aufgewachsen. Meine Eltern sind Muslime. Aber wir sind armenischer Abstammung. Mein Opa konvertierte 1915 zum Islam, um sein Leben zu retten. Er kommt aus dem Distrikt Lici, genauer gesagt aus dem Dorf Mele. So heißt das Dorf zumindest heute, wie es auf Armenisch hieß, weiß ich nicht. Früher gab es oft zwei Namen für Orte oder auch Menschen. Ich habe die Tradition für mich selbst behalten: In Türkisch und Kurdisch heiße ich Behçet, auf Armenisch aber Aram.
KS: 2015 ist ja der 100. Jahrestag des Völkermords an den Armeniern, bei dem 1,5 Millionen Menschen ihr Leben lassen mussten. Der türkische Staat hatte ihn 1915 systematisch geplant und durchgeführt. Beteiligt waren allerdings auch viele Kurden. Wie ist das Verhältnis zwischen den Armeniern und den Kurden heute?
[Çiftçi]: Ich kann dazu sagen, dass ich heute in Diyarbakir lebe, in dieser sehr alten Stadt. Ich kann sagen, dass ich die Kurden hier mittlerweile sehr gut kenne. Deswegen appelliere ich an die armenischen Gemeinschaften in der Diaspora, dass sie unbedingt zwischen den Kurden von heute und von damals unterscheiden sollten. Die Kurden von heute sind nicht die Kurden von damals. Die von heute würden ihr Leben opfern für den Schutz der Armenier und der Christen, sowohl in der Türkei, als auch in den anderen Ländern. Überall wird uns Armeniern von Kurden geholfen, in der Türkei, in Syrien, im Irak, im Iran.
KS: Was müsste Ihrer Meinung nach politisch 100 Jahre nach dem Völkermord passieren?
[Çiftçi]: Eine Aussöhnung ist nur mit einer politischen Anerkennung des Völkermords durch die türkische Regierung möglich. Der türkische Staat muss diese Forderung erfüllen. Dann könnte auch die Grenze zwischen Armenien und der Türkei geöffnet werden, damit Armenier problemlos in die Türkei kommen, ihre alte Heimat oder auch Diyarbakir und andere türkische Orte besuchen können.
Das Interview wurde am 4. Februar 2015 in Diyarbakir von Kamal Sido, dem Nahostreferenten der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) geführt.
[1] Der Politiker Abdullah Demirbas wurde im September 2015 erneut verhaftet. Mehr Infos dazu gibt es hier.