„Die türkische Regierung muss ihre feindselige Politik gegenüber uns Kurden beenden“

Seit Anfang Februar bestimmen die Kämpfe um Aleppo die Schlagzeilen. Seitdem sind tausende Menschen auf der Flucht. Viele harren an der türkischen Grenze aus, einige tausend sind mittlerweile aber im kurdischen Kanton Afrin im Nordwesten von Syrien als Flüchtlinge angekommen. Inzwischen greift das türkische Militär mit schwerer Artillerie dieses Gebiet an – darunter auch zivile Ziele.

Foto: RadekProcyk/iStock [Symbolbild]

Es gibt Tote und Verletzte. Der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen hat gestern (16.02.16) in einer Erklärung einstimmig die Türkei aufgefordert, die Angriffe auf Stellung der kurdischen Bürgerschutzwehr YPG einzustellen. GfbV-Nahostreferent Kamal Sido sprach am Telefon mit der kurdischen Alawitin Hevi Ibrahim Mustafa, der Präsidentin von Afrin, über die aktuelle Lage vor Ort und wie eine humanitäre Katastrophe abgewendet werden könnte.

Kamal Sido: Frau Mustafa, wie ist die aktuelle Lage in Afrin?

Hevi Ibrahim Mustafa: Jeden Tag kommen neue Flüchtlinge bei uns in Afrin an. Allein in der ersten Februarwoche haben in der autonomen Region Afrin rund 4.282 Familien, insgesamt 31.000 Personen, Zuflucht gefunden. Und das sind nur die registrierten Flüchtlinge. Die wirkliche Zahl könnte noch höher sein. Wir gehen momentan von etwa 35.000 Flüchtlingen aus, die wir unterbringen müssen. Über die Hälfte von ihnen sind Kinder, die jünger als 15 Jahre sind.

KS: Afrin ist eine mehrheitlich von Kurden besiedelte Region. Sind denn auch die meisten Flüchtlinge kurdisch?

Mustafa:  Nein. Es sind zwar einige Kurden und auch einige wenige Turkmenen unter den Flüchtlingen, der Großteil stammt allerdings aus den arabisch-sunnitischen Ortschaften im Norden von Aleppo und ist deswegen überwiegend selbst arabische Sunniten. Manche Flüchtlinge kommen sogar direkt aus den Oststadtvierteln von Aleppo.

Der GfbV-Nahostreferent Kamal Sido (r.) traf die Präsidentin von Afrin, Hevi Ibrahim Mustafa, im Februar 2015 in Afrin.

KS: Wo werden die Flüchtlinge in Afrin untergebracht?

Mustafa: Wir haben große Schwierigkeiten, all diese Menschen unterzubringen, da uns weitere Unterkünfte fehlen. Nach 2012, als die ersten Kämpfe zwischen Assads Truppen und den Islamisten in Aleppo ausbrachen, fanden bereits immer wieder viele Kurden, aber auch etwa 200.000 bis 300.000 Araber in der Region Afrin Zuflucht.  Wir haben einige der Menschen in den Schulen und Moscheen in den umliegenden Dörfern untergebracht, aber die meisten Flüchtlinge leben im Flüchtlingslager Robar, östlich von Afrin. Weil wir dort aber dringend Zelte für die jetzt neu angekommenen Menschen benötigen, müssen diese vorerst im Freien leben. Zudem brauchen wir im Camp Robar dringend eine stabile Grundlage für die  Bewohner, wir brauchen Strom und sauberes Trinkwasser. Diese Möglichkeiten haben wir aber nicht.

KS: Wenn es an Strom und Trinkwasser fehlt, wie können die Flüchtlinge dann versorgt werden?

Mustafa: Wir haben alle Bewohner Afrins aufgefordert zu helfen. Wer die Möglichkeit hat, bringt eine warme Decke oder eine Matratze zu den dafür bereitgestellten Sammelpunkten. Wir brauchen auch Wundsalben, Desinfektionsmittel, Schmerzmittel, aber auchandere Medikamente und Babynahrung. Wegen der Blockadepolitik der türkischen Regierung haben wir kaum Vorräte. Alles ist sehr knapp. Kranke Flüchtlinge müssen in den zwei Krankenhäusern von Afrin behandelt werden, dort fehlt es aber ebenfalls an allem. Die Ärzte befürchten Epidemien.

KS: Dürfen Hilfsorganisationen nach Afrin kommen, um Unterstützung zu leisten?

Mustafa: Wir haben einige lokale Hilfsorganisationen, die helfen, wo sie können. Ihre Kapazitäten sind aber  erschöpft. Ausländische Hilfsorganisationen haben Angst vor militärischen Auseinandersetzungen oder dass ihre Mitarbeiter auf dem Weg zu uns von Islamisten entführt werden. Diese Angst ist nicht unbegründet: Die beiden Grenzübergänge in der Nähe von Afrin sind in der Hand der Radikalislamisten, welche immer wieder unsere Bevölkerung als Geiseln nehmen, wenn sie die Grenze überqueren.  Ausländische Hilfsorganisationen haben somit große Schwierigkeiten, legal über die Grenze nach Afrin zu kommen, denn sowohl die türkische Regierung als auch die „moderaten“ Islamisten, die durch die Türkei unterstützt werden, versperren ihnen den Weg nach Afrin.

KS: Dürfen ausländische Kamerateams nach Afrin kommen?

Mustafa: Was für die Hilfsorganisationen gilt, gilt auch für Journalisten. Selten kommt ein ausländischer Journalist nach Afrin, und wenn er kommt, dann muss er viel  riskieren. Praktisch kann keiner nach Afrin kommen, weil die Region über keinen direkten Grenzübergang zur Türkei verfügt. Die Türkei und die autonome Region Afrin haben etwa 100 km gemeinsame Grenze. An dieser ganzen Strecke gibt es jedoch keinen einzigen legalen Grenzübergang.  Wenn wir einen hätten, dann wäre es auch für die Hilfsorganisationen kein Problem, hierher zu kommen,  in Afrin zu arbeiten und die Flüchtlinge hier vor Ort zu versorgen. Dafür muss die türkische Regierung aber ihre unberechtigte und feindselige Politik gegenüber uns Kurden und anderen Minderheiten beenden. Wir stellen für die Türkei keine Gefahr dar. Ganz im Gegenteil, die Radikalislamisten wie al Nusra-Front oder Ahrar al Scham werden von der Türkei unterstützt. Und diese Gruppen, wie auch der „Islamische Staat“ (IS) greifen uns an und blockieren die Zufahrtsstraßen zu Afrin.

KS: Ist es dann nicht eigentlich auch gefährlich in Afrin?

Mustafa: In Afrin selbst ist das Leben sicher. Aber wir brauchen Ihre Solidarität. Mit Ihrer Hilfe könnten wir uns und viele Flüchtlinge hier vor Ort versorgen. Wir wollen nicht als Flüchtlinge nach Deutschland oder Europa kommen, sondern in unserer Heimat bleiben. Dazu brauchen wir vor allem einen regulären direkten Grenzübergang nach Afrin. Ich appelliere an die türkische Regierung, uns nicht als Feinde, sondern als gute Nachbarn zu betrachten. Um eine humanitäre Katastrophe noch rechtzeitig verhindern zu können, sollte die türkische Regierung ihre Blockadepolitik gegenüber Afrin und Nordsyrien sofort beenden.

Das Interview wurde am 11. Februar 2016 telefonisch durch den GfbV-Nahostreferent Kamal Sido geführt.

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