Trotz Kälte und heranrückender syrischer Armee lässt die Türkei Zehntausende syrische Bürgerkriegsflüchtlinge aus Aleppo nicht ins Land. Die Menschen sind verzweifelt. Benedikt Dittrich von der Hessische/Niedersächsische Allgemeine (HNA) sprach mit GfbV-Nahostreferent Kamal Sido.
Foto: Joel Carillet/istock
Herr Sido, der Vormarsch der Regierungstruppen im Norden Syriens zwingt Zehntausende Menschen zur Flucht. Wie ist die Lage im türkischen Grenzgebiet?
Kamal Sido: Viele leben in Zelten in der Nähe der Stadt Asas, einige sind dort bei Verwandten untergekommen. Es fehlt an allem: Lebensmittel, Trinkwasser und Medikamente. Außerdem sind etwa 35.000 nach Afrin im Nordwesten geflüchtet. Viele Menschen haben ihre Vorräte inzwischen aufgebraucht. In der Nacht herrschen Temperaturen um Null Grad.
Wer hilft den Menschen?
Sido: Es gibt Helfer aus der Türkei, die die Grenze bei Asas überqueren dürfen. Das sind vor allem syrische Helfer, die in der Türkei leben. Die versorgen die Menschen, so gut es geht. Für die Flüchtlinge auf der syrischen Seite ist die Grenze allerdings geschlossen. Und die Grenze im Nordwesten nach Afrin ist gar nicht geöffnet.
Wieso sind die Grenzen zur Türkei geschlossen?
Sido: Ich bin davon überzeugt, dass der türkische Präsident Erdogan das Schicksal der Flüchtlinge instrumentalisiert. Er möchte mediale Aufmerksamkeit, um den politischen Druck zu erhöhen und seine politischen Ziele durchzusetzen.
Welche Ziele hat Erdogan?
Sido: Er will durchsetzen, dass sich die europäischen Staaten und Amerika zur Türkei als Verbündeten bekennen, anstatt die Kurden zu unterstützen. Afrin gehört zur kurdisch verwalteten Region. Indem Erdogan die Grenze schließt, will er auch verhindern, dass sich eine kurdische Autonomieregion bildet. Gleichzeitig will er den Einfluss der Türkei in der Region ausweiten. Dadurch behindert er aber den Kampf gegen den Islamischen Staat in Syrien.
Die aktuelle Flüchtlingswelle wurde durch den Vormarsch der Assad-Truppen ausgelöst. Ist mit weiteren Wellen zu rechnen?
Sido: Ja. Dazu muss man wissen, wer in Syrien gegen wen kämpft. Das syrische Regime kämpft mit der Unterstützung des Iran, der Hisbollah und der russischen Luftwaffe gegen den Islamischen Staat und andere Islamisten. Und dazwischen gibt es noch die Kurden, die gegen beide kämpfen. Durch die Offensive der syrischen Armee wurden schiitische Orte wie Nubul und Zahra bei Aleppo befreit, die von Islamisten lange eingekesselt waren. Das ist gut etwa für Schiiten und Christen in Aleppo, sie können besser versorgt werden. Aber die Sunniten fliehen vor den Truppen.
Sehen Sie eine Lösung?
Sido: Es muss weiter verhandelt werden – und zwar mit Russen, mit den Iranern, mit den Türken. Eine militärische Lösung wird es nicht geben. Es ist eine Patt-Situation. Heute ist der syrische Präsident Asssad auf dem Vormarsch, morgen vielleicht der Islamische Staat, übermorgen eine andere Partei.
*Das Interview erschien am 9. Februar 2016 in der HNA. Wir danken Benedikt Dittrich für die Erlaubnis, das Interview auf unserem Blog zu veröffentlichen.
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“Sido: Ich bin davon überzeugt, dass der türkische Präsident Erdogan das Schicksal der Flüchtlinge instrumentalisiert. Er möchte mediale Aufmerksamkeit, um den politischen Druck zu erhöhen und seine politischen Ziele durchzusetzen.”