Die Guarani Kaiowá sind eines der größten indigenen Völker Brasiliens mit etwa 40.000 Menschen. Sie leben im Südosten des Landes im Bundesstaat Mato Grosso do Sul. Ihre Situation ist extrem prekär. Aus diesem Grund können sie ihre Kultur nicht ausleben, ihre politischen Rechte werden systematisch verletzt und ihre Unversehrtheit wird nicht gewährleistet. Allein 2020 wurden 34 Mitglieder ermordet. Die Situation hat sich 2022 noch weiter zugespitzt und den letzten Monaten mit mehreren Mordopfern einen neuen Höhepunkt erreicht.
Von Charlotte Kleine, Eliane Fernandes; Foto: Romerito Pontes | Flickr
Historischer Überblick
Das Volk der Guarani setzt sich aus drei kulturell und linguistisch leicht unterschiedlichen Gruppen zusammen, den Guarani Kaiowá, den Guarani Ñandeva und den Guarani M’byá. Ihr Gebiet erstreckt sich vom heutigen Paraguay (dort ist Guarani auch die zweite offizielle Landessprache neben Spanisch), dem Norden Argentiniens, und von Teilen Boliviens bis nach Uruguay. Kontakt zwischen verschiedenen Guarani und den Spaniern gab es seit Anfang der Kolonialisierung. Jedoch war dieser, zumindest was die Guarani Kaiowá im Bundesstaat Mato Grosso do Sul betrifft, relativ gering bis zu den 1940er Jahren. Da begann der damalige Präsident Getúlio Vargas während der von ihm begründeten Diktatur – die er selbst als “Estado Novo” bezeichnete – Ländereien in dem Gebiet zu verteilen um den Anbau von Mais, Zuckerrohr und später auch Soja in Monokulturen zu fördern. Seit den 1980ern wächst die Landgier der Großgrundbesitzer*innen stetig, die intensive Viehzucht und der immer weiter expandiere Anbau von Zuckerrohr- und Soja in Mato Grosso do Sul verstärkt die Unterdrückung der Guarani Kaiowá in ihren ursprünglichen Territorien. Heutzutage ist Mato Grosso do Sul der größte Produzent von Agrarprodukten in Brasilien. Die Erträge werden fast ausschließlich für Biotreibstoff und Viehfutter verwendet.
Verseuchung zur Folge
Die Verdrängung der Guarani Kaiowá durch die neuen Großgrundbesitzer führte zu einer Zerstückelung ihres Territoriums. Immer mehr Gruppen sahen sich von Farmen umgeben. Teils wurden sie von den Großgrundbesitzern als Farmarbeiter eingestellt, wobei sie dort systematisch ausgebeutet wurden mit einer geringen Bezahlung und langen Arbeitstagen.
Heute leben viele Angehörige der Guarani Kaiowá in Camps entlang der Landstraßen in notdürftigen Unterkünften. In dem größten indigenen Reservat “Dourados” leben über 20.000 Menschen auf gerade mal 3.000 Hektar, viele Hütten sind aus schwarzen Plastikplanen gebaut – das in einer Region in der es regelmäßig 40 Grad Hitze sind.
Außerdem, führte der hohe Pestizidgebrauch der intensiven Landwirtschaft zu einer Verseuchung des Grundwassers. Die Anzahl an Krebserkrankungen hat in den letzten Jahrzehnten drastisch zugenommen. Wegen der Monokulturen wachsen auch einige Pflanzen, die in der Kosmovision der Guarani Kaiowá besonders wichtig sind, nicht mehr. So gibt es zum Beispiel keine “Casas de Rezas” (sogenannte Gebetshäuser) mehr welche traditionell von den Kaiowá genutzt wurden. Einige von diesen wurden sogar von bezahlten Milizen von den Großgrundbesitzer*innen zerstört. Jagen und Fischen ist ebenfalls kaum mehr möglich, weil die Gebiete zu klein und die Flüsse verschmutzt sind.
Dies hatte als direkte Folge, dass Unterernährung bei den Kaiowá zu einem Problem wurde und Anfang der 2000er überdurchschnittlich viele Kinder wegen Mangelernährung starben. Der brasilianische Staat fing an Essenskörbe zu verteilen, von denen heute 90% der Familien abhängen. Doch wie die Guarani Kaiowá hervorheben, ist dies keine Lösung. Denn einerseits behandelt es nur eine Folge und nicht das Symptom, und stellt dazu eine enorme psychologische Belastung dar – denn bis vor einigen Jahrzehnten waren die Guarani Kaiowá selbstversorgend und lebten in einer üppigen Umwelt. Außerdem kommt das logistische Problem dazu, dass die Körbe nicht einmal regelmäßig kommen und keine ausgewogene Ernährung gewährleisten können.
“Es ist nicht übertrieben von einem Genozid zu sprechen”
“Es ist nicht übertrieben von einem Genozid zu sprechen” sagte der Anthropologe Marcos Homero Ferreira Lima 2009 in einem Bericht für die Staatsanwaltschaft von Dourados, die für den Schutz und die Durchsetzung der Rechte indigener Völker zuständig ist. [1] Er bezog dies nicht nur auf die katastrophale Lage der Umwelt und Lebensmittelversorgung, sondern auch auf die sozialen Folgen der Landraube.
Die Gewalt von außen führt zu Verzweiflung und verstärkt auch die Gewalt im Inneren der Gemeinschaft. Die Guarani Kaiowá haben an der Bevölkerung gemessen eine der höchsten Selbstmordrate der Welt. Die meisten Opfer waren dabei gerade mal zwischen 15-19 Jahren alt. Die ständige Unsicherheit und die fehlende Perspektive einer Verbesserung der Lage haben dabei eine große Rolle gespielt.
Teils wurden die in den umliegenden Farmen ausgebeutete Farmarbeiter Alkoholkrank und die häusliche Gewalt nahm zu.
Systemischer Rassismus führt dazu, dass die Guarani Kaiowá einen überdurchschnittlichen Teil der Gefängnisbevölkerung in Mato Grosso do Sul darstellen. Dabei ist ein klares Muster von erstaunlich strengen Haftstrafen für vergleichsweise kleinen Straftaten zu erkennen. Dies obwohl Brasilien eigentlich dazu verpflichtet ist – durch die Ratifizierung der ILO Konvention 169 – Gefängnisstrafen bei indigenen Völkern zu meiden und mit der Gemeinschaft Lösungen zu erarbeiten. Hinzu kommt, dass oft eine adäquate Verteidigung nicht gewährleistet wird, weil keine Interpreten zur Verfügung gestellt werden um die Verständigung zwischen Mandant und Anwalt zu erleichtern.
Weil die Guarani Kaiowá ihre politischen Rechte und Kultur nicht ausleben können, spricht die ehemalige Umweltministerin und Senatorin Marina Silva von einer “sozialen Apartheid”. [2]
“Retomadas” und “Demarcaçao”
In den 1990er Jahren begannen die Guarani Kaiowá ihr Land wieder zu erobern, sogenannte “Retomadas” (die Rückeroberung ihrer ursprünglichen Territorien). Doch die Großgrundbesitzer*innen sind gut mit der lokalen und Landespolitik vernetzt und gründeten Milizen um die Indigenen gewaltsam zu vertreiben. Die Guarani Kaiowá sprechen daher von “Agrobanditismo” (d.h. dass Landwirte rohe Gewalt und Milizen gegen Indigene einsetzen, um ihre Interessen durchzusetzen). Ein besonders bekannter Fall war der des Kaiowá-Chefs Marcos Verón, aus der Gemeinschaft “Takuára”. Mit 73 wurde er 2003 von Milizen zu Tode geprügelt. Die Mörder wurden zwar zu Hafstrafen verurteilt, wenn auch nicht für Mord sondern für Entführung, Folter und krimineller Verschwörung, doch die Auftragsgeber wurden nicht einmal vor Gericht gebracht. Dies ist bei weitem kein Einzelfall und sorgt für eine Atmosphäre der Straffreiheit welche die Gewaltexzesse gegen die Guarani Kaiowá verstärkt.
Teilweise werden sie in ihren Reservaten angegriffen, ihre Häuser werden verbrannt und die Obst- und Gemüseanbauten mit Baggern plattgefahren. Erst am vergangen Samstag, dem 16. Juli, wurden eine Gemeinde des Territoriums Kurupi in Mato Grosso do Sul angegriffen. Im Juni sorgten mehrere Tote bei einer Retomada für Schlagzeilen. Doch diese Schlagzeilen bleiben vergleichsweise wenige. In der internationalen Presse ist in den vergangenen zehn Jahren fast nichts mehr zu der Situation der Guarani Kaiowá veröffentlicht worden. Auch in den brasilianischen Medien findet man in lokalen alternativen Medien mehr als in den großen Tageszeitungen.
Deshalb versuchen die Guarani Kaiowá heute auch über die sozialen Medien auf ihre Lage aufmerksam zu machen. Durch das Dokumentieren anhand von Fotos und Videos der Angriffe der Großgrundbesitzer wollen sie mehr Menschen erreichen, um den Druck auf die Politik zu erhöhen. Es geht um ihren politischen Kampf, aber auch darum ihre Kultur und Sprache zu zelebrieren. So rappen sie zum Beispiel auf Guaraní über die Notwendigkeit, dass ihr Territorium demarkiert wird.
Denn während die Guarani Kaiowá die Demarkierung ihrer Territorien fordern, bestehen die Großgrundbesitzer*innen darauf die rechtmäßigen Besitzer*innen der Ländereien zu sein, indem sie sich auf den gefährlichen Gesetzentwurf berufen, der als “Marco Temporal” bekannt ist und besagt, dass die Gebiete vor 1985 von den Indigenen besetzt sein mussten um heute zurückgeführt werden zu können – die meisten Guarani Kaiowá wurden aber schon vor 1985 vertrieben und so müssten die Großgrundbesitzer*innen kein Land abgeben. Zudem hat der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro des Öfteren klar gemacht, dass seiner Meinung nach “Wenige Indigene viel Land besitzen” und er deshalb in seiner Amtszeit keine Territorien demarkieren würde.
Wie sich die Lage der indigenen Völker Brasiliens durch die im Oktober anstehenden Wahlen verändern könnte, ist abzuwarten. Diese sind jedoch gemessen an der dramatischen Situation noch lange hin und auch ihr Ergebnis ist viel zu ungewiss. Deshalb muss jetzt gehandelt werden. Die Kaiowá selbst lassen sich nicht vom “Agrobanditismo” einschüchtern und werden weiterhin die Rückeroberung ihrer Gebiete planen.
[1], [2] Guarani Report (Survival International)