Leid? Mord? Zerstörung? Frieden und der nachhaltige Wiederaufbau eines Landes, welches Schauplatz eines achtjährigen brutalen Krieges ist, ist eine Mammutaufgabe.
Von Maira Haroon; Foto: Marc Veraart | Flickr
Zu genau diesem Thema organisierte das Bündnis 90/die Grünen am 15. Mai 2019 ein Fachgespräch, um über die Zukunft und Perspektiven Syriens zu reden. Es wurde über die Menschenrechtslage diskutiert, den Nebenwirkungen und Risiken des Wiederaufbaus im wesentlichen Bezug auf das Assad-Regime und zu guter Letzt, wie es um die internationalen Bemühungen für einen Friedensprozess steht. Der Weideraufbau Syriens ist keine rein technische Maßnahme. Die Schwierigkeit liegt vor allem darin, den Konflikt in seiner vollen Komplexität und Fragmentierung zu begreifen, um das Land nachhaltig wiederaufzubauen.
Christin Lüttich, Geschäftsführerin von der syrisch-deutschen politischen Initiativbewegung „adopt a revolution“ und Joumana Seif, Mitbegründerin der syrischen Frauenrechtsbewegung Syrian Womens Network, gaben einen Einblick auf das Ausmaß des Leids: Ein Viertel aller Gebäude, die Hälfte aller Schulen und Krankenhäuser sind zerstört. Es herrschen 78 Prozent Jugendarbeitslosigkeit. 11,6 Millionen Menschen sind geflüchtet, Frauen und Kinder wurden verschleppt und versklavt. Über 500.000 Menschen sind gestorben.
Das ist die momentane Realität im Land, doch wie steht es um seine Zukunft?
Nach Angaben Lüttichs ist es Assads Strategie, Syrien und sein Regime wieder salonfähig zu machen, indem internationale Beziehungen wiederaufgebaut werden und man vergisst, dass Syrien immer noch ein Folterstaat ist. Wie macht er das? Indem er den nötigen Rechtsrahmen schafft. Durch Gesetze wie Dekret 66/63 und Gesetz Nr. 10 werden die gesetzliche Enteignung der Benachteiligten und der Klientelkapitalismus geregelt. Dekret 66 sieht vor, dass nicht genehmigte und illegale Wohngebiete umgestaltet und durch moderne Immobilien ersetzt werden sollen. Für die Betroffenen bedeutet das, sie müssen innerhalb von einem Jahr ihre Besitzurkunde bei den zuständigen Behörden vorlegen, damit sie eine Entschädigung bekommen. Privatbesitz ist dank Dekret 63 ebenfalls davon betroffen. Dadurch zieht der Staat das Eigentum all jener ein, die fliehen mussten. Ziel ist es nach Lüttich, als allererstes durch alte, wiederbelebte Projekte wie „Marota-City“ (seit 2012 im Bau) oder neue Projekte wie „Basilia-City“ Regionen um Damaskus in „klein-Dubai“ zu verwandeln. Das ist die momentane politische Ökonomie Assads, die einerseits Bestrafung ist für die viele Oppositionellen, die aus diesen betroffenen Gebieten kommen und anderseits eine Belohnung ist für loyale nationale und internationale Verbündete. Nur die Elite und die „Gewinner des Krieges“ werden sich diese neuen lukrativen Luxusimmobilien leisten können. Die Diktatur und der Nepotismus werden weiter gestärkt.
Ebenfalls anwesend war Anita Starosta, Syrien-Referentin der humanitären Organisation medico international e.V. Sie machte vor allem auf das Dilemma vieler Hilfsorganisationen aufmerksam. Durch die Manifestierung der Macht Assads werden Menschenrechtsverletzungen im restlichen Teil des Landes immer noch nicht aufgearbeitet. So sprach Youmana Seif zum Beispiel von 127.000 noch immer vermissten und spurlos verschwundenen Menschen, die sehr wahrscheinlich in den Hafteinrichtungen des Regimes misshandelt und gefoltert werden. Das Regime gibt den Rahmen der Hilfeleistungen an. Das heißt Assad gibt den NGOs Anweisungen darüber, wo und wie sie helfen sollen und dürfen. Die Zusammenarbeit mit lokalen syrischen Organisationen ist fast unmöglich geworden.
Ein weiteres Problem ist die hochkomplexe Fragmentierung und der Bilateralismus, nicht nur des Landes, sondern der ganzen Welt. Dr. Carsten Wieland, leitender Syrien-Experte bei den Vereinten Nationen in Genf, brachte es auf den Punkt: „Wer ist an einer multilateralen Anstrengung zu Syrien noch interessiert?“ Ziel ist es, in Genf die Komplexität zu reduzieren. Durch ihre „shuttle diplomacy“ und ihre Vermittlerrolle zwischen der Regierung und der Opposition sehen sie sich in der Lage, vielleicht bereits in paar Wochen ein erstes Verfassungskomitee für Syrien in Genf einzuberufen, das sich vor allem um eine Nachkriegsverfassung bemühen soll.
Paradoxerweise spricht man nach der territorialen Zerschlagung des IS bereits von einer „Post-Konflikt-Phase“, von „Wiederaufbau“ und von einer „Nachkriegsverfassung“, obwohl der Krieg de facto noch nicht vorbei ist. Es gibt keinen Friedensvertrag, ein Teil des Landes ist besetzt (Afrin) und Kämpfe gehen vor allem in Idlib weiter. Die internationalen Stimmen, die das Ende des Assad-Regimes forderten, sind verstummt. Carsten Wieland meinte zwar, dass der Ausgang des Verfassungskomitees offen sei, doch Anita Starosta von medico international, wiedersprach seiner These im Verlauf des Gesprächs: „Assad hat sich durchgesetzt“. Ihm gehören nun wieder weite Teile des Landes. Durch die Manifestierung seiner Macht, dank Immobilien Projekten wie „Marota City“ und der immensen Unterstützung Russlands und Irans, scheint Assad ein fester Bestandteil der Zukunft Syriens zu sein. Geflüchtete sind offensichtlich nicht die Adressaten seiner Wiederaufbaupläne. Sie werden als allererstes enteignet und schließlich gehindert zurückzukehren, weil sie sich die neuen Miet- und Kaufpreise nicht leisten können. Hilfsorganisationen wissen nicht, wo sie die Grenze ziehen sollen, zwischen der Leistung humanitärer Hilfe und der Unterstützung des Wiederaufbaus bzw. ob sie überhaupt eine Grenze ziehen sollen. Für alle Menschen, die tatsächlich frei von wirtschaftlichen oder persönlichen Interessen sind und sich einen nachhaltigen politischen Wiederaufbau in Syrien wünschen, damit Bürger endlich wieder sicher und ohne Existenzängste sich ein neues Leben aufbauen können, ist die Bildung eines Verfassungskomitees in Genf momentan die einzige Hoffnung. Aber auch der Würgegriff Russlands um Syrien muss gelockert werden.
Fragen Sie sich lieber nicht, inwiefern die deutsche Bundesregierung den politischen Friedensprozess unterstützt, denn die Antwort wäre mehr als deprimierend.
Die deutsche Bundesregierung ist zwar der größte Geldgeber für humanitäre Organisationen in Syrien, hat 100.000 syrische Flüchtlinge aufgenommen, aber all das verliert an Wert und Bedeutung, wenn sie weiter Waffen an die Türkei liefert und die aggressive und islamistische Politik Erdogans gegen Christ*innen, Yezid*innen, Kurd*innen und andere Minderheiten nicht nur duldet, sondern mitunterstützt. Außerdem hat sie auf die Forderung der Gesellschaft für bedrohte Völker und anderer NGOs, deutsche IS-Kämpfer aus Syrien zurückzuholen, schlichtweg nicht reagiert. Also Deutschland: wie sehr bist du eigentlich an einer multilateralen Lösung interessiert?