In Weißrussland regt sich Protest. Tausende verzweifelte Menschen gehen auf die Straßen, mehr als 150 sind bereits verhaftete worden. Der Auslöser der Proteste ist längst einem generellen Luftmachen über die desaströse Lage gewichen. Wie es ausgeht, ist bisher ungewiss. Unsere GUS-Referentin kommentiert.
von Sarah Reinke; Foto: pixabay.com
So viele Menschen sind in Weißrussland seit Jahren nicht mehr auf die Straße gegangen. Doch jetzt protestieren seit Anfang des Monats Tausende gegen das Regime, an dessen Spitze der weißrussische Diktator Alexander Lukaschenko steht. Auslöser für die Demonstrationen war ein Gesetz, genannt Dekret Nr. 3, das Lukaschenko im April 2015 erlassen hatte und bei dem die Frist Ende März abläuft. Seitdem müssen weißrussische Bürger, die im Jahr länger als sechs Monate ohne Beschäftigung sind, eine jährliche Strafe von umgerechnet 180 Euro zahlen. Lukaschenko hat zwar Anfang März kurz nach Aufflammen der Proteste bekannt gegeben, dass das in der Öffentlichkeit als “Schmarotzersteuer” bezeichnete Dekret Nr. 3 für ein Jahr ausgesetzt werde, aber gleichzeitig die Sicherheitskräfte angewiesen, hart gegen die Organisatoren der Proteste durchzugreifen. “Man muss diese Provokateure wie Rosinen aus dem Brötchen heraus pulen”, formulierte es der Staatschef. Unmittelbar danach wurden bei einer Kundgebung in Molodetschno bei Minsk mehrere Oppositionsführer festgenommen. Doch die Sicherheitskräfte konzentrieren sich nicht nur auf die führenden Köpfe der Demonstrationen: In Bobruisk, Minsk und Orscha nahmen sie einen Trommlerzug vermummter Anarchisten sowie Blogger und Journalisten in Gewahrsam. Die meisten von ihnen wurden zu 15 Tagen Arrest oder Geldstrafen von mehreren hundert Dollar verurteilt. Doch die Demonstrationen gehen weiter. Vor wenigen Tagen konnte man hören, wie die Demonstranten in Minsk „Lukaschenko geh!“ skandierten.
Nach Ansicht vieler Beobachter wird die Proteststimmung noch anwachsen, denn die Aussetzung des Dekrets Nr. 3 löse in keiner Weise die wachsenden sozialen Probleme. Die soziale Lage vieler Weißrussen ist katastrophal: Nach Einschätzung von Wirtschaftsexperten ist das reale Durchschnittseinkommen seit 2015 von umgerechnet rund 470 Euro auf etwa 340 Euro gesunken. Deshalb protestieren auch Arbeiter, Rentner und Studenten. Sie sehen in der weißrussischen Planwirtschaft keinerlei Zukunft mehr.
Seit Wochen protestieren tausende Weißrussen gegen die sogenannte “Schmarotzersteuer”, die an sowjetische Zeiten erinnert. Das Gesetz verpflichtet Arbeitslose dazu, eine Strafe für ihre Arbeitslosigkeit zu bezahlen.
Embed from Getty ImagesFoto: MAXIM MALINOVSKY/AFP/Getty Images
Seit 23 Jahren führt Lukaschenko seinen Staat mit harter Hand, die Opposition wird unterdrückt, der Geheimdienst durchdringt alle Bereiche des öffentlichen und privaten Lebens, die Gefängnisse sind voll, dort wird systematisch gefoltert und die Gefangenen werden zu Zwangsarbeit verpflichtet.
„Ich habe mich wie ein Sklave gefühlt“, berichtet ein ehemaliger politischer Häftling der GfbV. „Wir mussten zehn bis zwölf Stunden harte Arbeit leisten. Das Essen war ungenießbar, das Fleisch oftmals verdorben, alles andere hat nicht ausgereicht. Ich wurde gefoltert und musste Monate in Isolationshaft im Karzer verbringen.“ Dieses Regime fallen zu sehen, ist der Traum vieler Weißrussen im In- und Ausland.
In seiner Paranoia beruft sich Lukaschenko auf Verschwörungstheorien als Erklärung für die Proteste: Die „fünfte Kolonne“, also Kräfte aus dem Ausland, die seine Regierung stürzen wollen, sei für die Demonstrationen verantwortlich, ausländische Mächte und Weißrussen im Exil würden die Demonstranten bezahlen. Bislang hat Lukaschenko die Demonstrationen noch nicht mit Waffengewalt beenden lassen, doch die Verhaftungen von bisher über 150 Personen zeigt, wie er zu diesen Protesten steht. Mit offener Gewalt gegen die Demonstranten würde Lukaschenko jedoch sein neues, etwas positiver besetztes Image, das er bei den Europäern aufgebaut hat, wieder verspielen. Seit der Annexion der Krim entwickelt sich eine neue Beziehung zwischen der EU und der weißrussischen Regierung, denn Lukaschenko hat Putins Politik nicht offen unterstützt. Allerdings ist Lukaschenkos Macht wegen der günstigen Energielieferungen und wirtschaftlichen Verflechtung stark vom russischen Präsidenten und dessen Regierung abhängig. Ob ihn diese mittlerweile landesweiten Proteste wieder stärker die Nähe Russlands suchen lassen oder ob er sich in Richtung Europa bewegt, ist noch nicht entschieden. Sicher ist, der Verlust Weißrusslands wäre für den russischen Präsidenten Putin ein schwerer Schlag. Er wird daher versuchen – so wie auch in der Ukraine 2014 – alle Hebel in Bewegung zu setzen, um das ihm genehme repressive Regime zu halten.
Die Armut in Weißrussland nimmt seit Jahren zu. Vor allem alte Menschen und Familien sind davon stark betroffen. Viele Weißrussen hoffen auf eine Reform der Wirtschaft, um den Verfall des Landes abzuwenden.
Embed from Getty ImagesFoto: SERGEI GAPON/AFP/Getty Images
Und die EU? Sie hat sich in Sachen Weißrussland in den letzten Jahren nicht mit Ruhm bekleckert: Bis Februar 2016 bestanden Sanktionen besonders gegen einzelne Personen. Sie sollten erst aufgehoben werden, wenn alle politischen Gefangenen frei und die Todesstrafe abgeschafft wäre. Doch gleich nach Aufhebung der Sanktionen hat Weißrussland vier Exekutionen durchgeführt. Es scheint so, als hätte die EU keine politische Strategie für Weißrussland.
Den Weißrussen, die 23 lange Jahre in einem repressiven Regime verarmt sind und unterdrückt wurden, möchte man einen friedlichen Wandel und eine Reform der Wirtschaft wünschen, damit die eklatante Armut im Land, die gerade auch alte Menschen schwer trifft, ein Ende hat und das Land sich so öffnet und entwickelt, wie es sich viele Bürger Weißrusslands wünschen. Doch das letzte Wort ist längst nicht gesprochen.
Mehr zur Region:
Russland beendet Zusammenarbeit mit Internationalem Strafgerichtshof: Ändert sich was?
#янебоюсьсказать: Ein #Aufschrei geht durchs russischsprachige Internet
Russland hat ein Rassismusproblem
[Zur Autorin]
SARAH REINKE ist Leiterin des GfbV-Büros in Berlin und gleichzeitig Referentin für die GUS-Staaten. Sie verfügt über tiefgreifende Kenntnisse der Lage bedrängter Minderheiten in dieser Region, hält ständig Kontakt zu Betroffenen und gibt ihnen eine Stimme.