Nach fast zwei Jahrzehnten ziehen die NATO-Truppen aus Afghanistan ab – viel zu übereilt und ohne nachhaltige Strategie, wie die Sicherheit der Zivilbevölkerung im Land gewährleistet werden kann. Die islamistischen Taliban haben bereits kurz nach dem Abzug wieder erhebliche Teile des Landes unter ihrer Kontrolle, der Konflikt dauert an. Auch der sogenannte Islamische Staat (IS) stellt eine Sicherheitsbedrohung dar. Die beiden Gruppen zielen vor allem auf die ohnehin bereits marginalisierten und diskriminierten Minderheiten im Land ab. Um Frieden herzustellen, muss daher der Schutz ethnischer und religiöser Minderheiten in den Friedensgesprächen und in einem potenziellen Friedensabkommen fest verankert werden.
Von Svenja Rommerskirchen; Foto: Nasim Fekrat via Flickr
Fast zwei Jahrzehnte lang waren Truppen der NATO in Afghanistan stationiert. Nun läuft seit Mai der Abzug vom Hindukusch. Auch die Bundeswehrsoldatinnen sind seit Ende Juni zurück in Deutschland. Der Vorgang ist Teil einer Vereinbarung zwischen den USA und der Taliban: Der Truppenabzug ist Tauschwert für eine Phase der „Gewaltreduzierung“ und Friedensgespräche mit der afghanischen Regierung. So verteidigen Verantwortliche wie der amerikanische Präsident Joe Biden und die deutsche Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer den Truppenabzug, der noch bevor ein Friedensabkommen zwischen den Konfliktparteien überhaupt in Aussicht ist, vollständig vollzogen sein wird. Das ursprüngliche und zentrale Ziel des Einsatzes, dass Afghanistan internationalen Terroristinnen nicht mehr als Zufluchtsort dient und diese nicht mehr aus dem Land heraus operieren können, sei erreicht worden.
Prekäre Sicherheitslage vor Ort
Im Gegensatz zu dieser durchaus positiven Bilanz befürchtet eine Vielzahl von Beobachterinnen, dass der NATO-Truppenabzug zu einem Machtvakuum führt, das die Taliban und andere islamistische Organisationen wie der IS für sich nutzen könnten. So ist die Taliban bereits wenige Tage nach dem beginnenden Abzug der Soldatinnen wieder auf dem Vormarsch. Sie kontrollieren schon heute erhebliche Teile des Landes, darunter wichtige Handelsorte und Gebiete, die sie zuvor nicht erobert hatten. Die Sicherheitslage vor Ort ist prekär und spitzt sich weiter zu – Expert*innen warnen bereits vor einer stetigen Verschlechterung.
Minderheiten als Zielscheibe der Taliban und des IS
Besonders die ethnischen und religiösen Minderheiten in Afghanistan sind seit Jahrzehnten immer wieder Opfer von Terroranschlägen. Sowohl durch die Taliban, der überwiegend sunnitischen Paschtunen angehören, als auch durch den IS, der versucht im Land Fuß zu fassen und hierfür gezielt gegen die Minderheiten im Land mobilisiert. Neben Hindus und Sikhs sind es vor allem Mitglieder der schiitischen Hazara, die von islamistischen Kräften angegriffen, verfolgt und marginalisiert werden. Es ist zu befürchten, dass sie bei neuen verstärkten Gewaltausbrüchen unter den ersten Opfern sein werden.
Die Minderheit der schiitischen Hazara
Der Hazara gehören etwa 10-15 Prozent der Bevölkerung an, womit sie die drittgrößte ethnische Gruppe des Landes darstellen. Bereits seit dem Ende des 19. Jahrhunderts ist ihre Geschichte geprägt von ethnisch und religiös motivierten Übergriffen. Ihre Siedlungsgebiete im Zentrum Afghanistans werden immer wieder gezielt für Anschläge sunnitischer Extremisten ausgewählt, in deren Augen die Hazara „Ungläubige“ sind. Es zeigt sich, dass die afghanische Regierung am Schutz der Hazara scheitert. Auch die Anwesenheit der NATO-Truppen konnte die historische Diskriminierung und Gewalt gegen die Minderheit nicht beenden. So kam es in den vergangenen Jahren, vor allem seit 2015, immer wieder zu Anschlägen auf beispielsweise Schulen und Hochzeitsgesellschaften, zu Verschleppungen und Tötungen.
Afghan*innen auf der Flucht
Die Angst vor der Taliban und anderer islamistischer Organisationen ist groß, daher sind zahlreiche Afghan*innen, darunter viele Angehörige der Minderheiten, auf der Flucht. Zumeist treibt sie ihre Angst zumindest vorübergehend in die Türkei. Dort erwarten sie jedoch prekäre Verhältnisse sowie ein Leben in Schutzlosigkeit und Ungewissheit, da sie keine Aussicht auf Asyl haben. Denn anders als beispielsweise Syrerinnen, sind Afghan*innen kein Teil des Flüchtlingsabkommen mit der Europäischen Union (EU). Auch könnte der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan unter den afghanischen Geflüchteten, wie im Falle der Syrerinnen, Söldner für seine Kriege anwerben. Zudem könnte er sie als Druckmittel gegen Europa benutzen. Dennoch nehmen viele diese Gefahr auf sich. Die der Hazara-Minderheit angehörige Amineh Alizadeh berichtete der Tagesschau: „Sie bringen uns einfach um. Wir sind dort nicht mehr sicher. Wenn sie uns sehen, würden sie uns einfach erschießen.“ Die Flucht sei für sie der einzige Ausweg. Die Hoffnung auf ein Leben in Sicherheit vor der Taliban ist größer als die Herausforderungen und Schwierigkeiten, die ein Leben außerhalb ihres Heimatslandes mit sich bringt.
Kein Frieden ohne Schutz ethnischer und religiöser Minderheiten
Während nun die ersten sogenannten Friedensgespräche zwischen der Taliban und der afghanischen Regierung stattgefunden haben, die darauf hoffen lassen, dass Einigungen zwischen den Konfliktparteien in der Zukunft näher rücken, zeigen sich auch hier Probleme für die Minderheiten im Land. So werden sie nicht in den Friedensprozess mit eingebunden, sondern ganz im Gegenteil: zwei Führer der Taliban, die für ein vergangenes Massaker an den Hazara verantwortlich gemacht werden, sitzen bei den Gesprächen in Doha sogar mit am Verhandlungstisch.
Daher gilt: Auch wenn die Gewalt gegen die Minderheiten keine neue Entwicklung ist und bereits über Jahrzehnte hinweg anhält, gilt es gerade jetzt nach dem Truppenabzug und ohne Friedensabkommen noch genauer hinzuschauen. Die Gefahr ist groß, dass sich die Situation, insbesondere für einige Teile der Bevölkerung, weiter verschlimmert. Bereits jetzt zeigt der ständige Terror gegen die Minderheiten, dass ihr Schutz ein integraler Bestandteil der Friedensgespräche und eines potenziellen Friedensabkommens sein muss. Ihre Stimmen müssen gehört werden. Ein besserer Schutz der Zivilbevölkerung und der Minderheiten ist essenziell für den Frieden im Land. Auch müssen den geflüchteten Afghan*innen in der Türkei und anderswo Schutz geboten und Perspektiven geschaffen werden – sei es auf eine Rückkehr oder auf ein Leben in Sicherheit.
Weiterführende Links und Quellen:
https://www.gfbv.de/de/informieren/laender-regionen-und-voelker/voelker/hazara/?tx_news_pi1%5B%40widget_0%5D%5BcurrentPage%5D=2&cHash=f7cfb39720ae65be986b0cb6f6f0ea5e
https://www.gfbv.de/de/news/hazara-in-afghanistan-7767/
https://www.gfbv.de/de/news/terroranschlag-gegen-sikh-tempel-in-afghanistan-9972/
https://www.gfbv.de/de/news/afghanistan-30-menschen-sterben-bei-selbstmordanschlag-10302/
https://www.gfbv.de/de/news/terroranschlag-gegen-schiitische-hochzeitsgesellschaft-in-kabul-9759/
https://www.gfbv.de/de/news/friedensgespraeche-mit-den-taliban-in-doha-7-7-9730/
https://www.youtube.com/watch?v=1g4TYBiJEYY
https://www.youtube.com/watch?v=8OWEaqMfCYs https://www.tagesschau.de/ausland/asien/tuerkei-iran-grenze-flucht-101.html
https://www.deutschlandfunk.de/journalist-zur-lage-in-afghanistan-taliban-haben-faktische.694.de.html?dram:article_id=500596
https://www.amnesty.org/en/latest/news/2021/06/afghanistan-deliberate-killing-of-civilians-must-be-investigated-following-deadly-attacks/