Jin Jiyan- „Die Frau ist Leben“

Am 3. Mai 2019 wurde im Theater in Mönchengladbach das Stück „Jin Jinyan – Der Aufbruch“ aufgeführt. Erzählt wird die Geschichte der Yeziden und Yezidinnen im Sinjar, die 2014 vom IS angegriffen wurden, und des Aufbruchs des yezidischen Volkes. Aufbruch – damit ist die Flucht der Yezid*Innen vor dem Genozid und auch ihre heutige Lage zu verstehen, denn für viele beginnt nach der weitestgehenden Vertreibung des IS ein neues Leben. Die Schweizerin Anina Jendreyko, die selbst lange in kurdischen Gebieten gelebt und gearbeitet hat, hat das Stück inszeniert.

von Theresa Meyer

„Ich möchte nicht über etwas sprechen. Und vor Ort sein, verändert den Blick.“

Anina Jendreyko, Inszenierung.

Am 3. August 2014 fiel der IS in den irakischen Sinjar
(arabisch Sindschar, kurmandschi Şingal), eine bergige Region im Norden des Landes, ein. Vor diesem Tag kannte kaum einer in Deutschland die yezidische Gemeinschaft (GfbV-Schreibweise, auch Êziden oder Jesiden). Mit dem Angriff des IS auf die yezidischen Städte und Dörfer änderte sich das. Die Yezid*Innen haben einen eigenständigen monotheistischen Glauben, der über die Jahrtausende von Generation zu Generation weitergetragen wurde. Im Mittelpunkt stehen drei Grundwerte: Rasti, die Wahrheit: Jede/r ist verpflichtet stets die Wahrheit zu sagen; Zanin, das Bekenntnis und Scherm, die Scham: Denn jede/r der über Schamgefühle verfügt, wird jemals etwas Schlechtes tun. Das Yezidentum ist keine Buchreligion und es wird nicht missioniert. Im Zentrum steht Gott. Eine Verkörperung des Bösen (wie der Teufel im Christentum) existiert nicht, denn Gott wäre schwach und machtlos, wenn es noch eine zweite Macht neben ihm gäbe. Gott ist einzig, allmächtig und allwissend. Er schuf aus dem Licht die sieben Engel, in deren Zentrum Tausi Melek, der Engel Pfau, steht. Er ist die Manifestierung Gottes auf der Erde, nicht aber Gott selbst, sondern Gottes Alter Ego.  Die Yezid*Innen sind anderen Religionen gegenüber sehr tolerant. Eine ihrer mündlichen Überlieferungen besagt, dass Gott erst die 72 Völker schützen möge und dann die Yezid*Innen.

Aufgrund ihres Glaubens werden die Yezid*Innen schon seit Jahrhunderten von ihren mehrheitlich muslimischen Nachbarn verfolgt. Den Genozid des IS im August 2014 bezeichnen die Yezid*Innen als den 73. Ferman (Massaker, Pogrom) an ihrem Volk.  In den mündlichen Traditionen wurde bis dahin an 72 Fermane erinnert. Die Zahl ist zwar symbolisch gemeint, steht jedoch für ihre auf Fakten basierende bedrückende Geschichte. Diese traurige Geschichte hat sich 2014 wiederholt: Im Sinjar wurden tausende yezidische Jungen und Männer ermordet, und tausende Mädchen und Frauen vergewaltigt, verschleppt und verkauft. Bis heute sind rund 3.000 Frauen und Kinder in der Gewalt des IS. Diese Fakten sind Hintergrund des Theaterstückes.


Foto: Matthias Stutte, Theaterfotograf am Theater Krefeld Mönchengladbach

Auf der Bühne steht eine Mauer, in ihrer Mitte fehlen zahlreiche Steine. Darauf werden Bilder aus dem zerstörten Sinjar projiziert. Drei kurdische Musiker*Innen spielen ein Lied. Die Schauspieler*Innen kommen direkt aus dem Publikum auf die Bühne. Hevin Tekin erzählt als Feride in einem ergreifenden Monolog ihre Geschichte. Wie ihre Familie versuchte, vor dem IS in die Berge zu fliehen. Über die Hoffnungslosigkeit ihrer Gemeinschaft, als die Peshmerga sich mit ihren Waffen zurückzogen und die yezidischen Flüchtlinge dem IS überließen. Weitere ähnlich schmerzhafte Schicksale werden dargestellt. Von Frauen, die vom IS verschleppt, vergewaltigt und verkauft wurden. Von Männern und Jungen, die erschossen wurden. Doch wird auch von der Hoffnung berichtet, die aufkam, als zwölf Kämpfer der kurdischen Befreihungsbewegung gemeinsam mit der yezidischen Gemeinschaft es schafften, in die Berge zu fliehen.


Foto: Matthias Stutte, Theaterfotograf am Theater Krefeld Mönchengladbach

Die Erzählungen basieren auf Interviews, die vor Ort mit den Menschen geführt wurden. Dafür ist fast der gesamte Cast Ende Januar in den Sinjar gereist. Jendreyko war es wichtig, dass die Schauspielenden einen direkten Einblick erhalten in die Lebensrealität und jüngste Vergangenheit der Yezid*Innen, um ihr Schicksal in Deutschland authentischer darstellen zu können. Während die Schauspieler*Innen die Interviews mit den Menschen, die sie getroffen haben, wiedergeben, laufen im Hintergrund die dazugehörigen Videos. Sie sind die Brücke zwischen dem Sinjar und dem Publikum: „Wir können diese Menschen nicht spielen, doch wir können ihnen hier eine Stimme geben“, sagt Vera Maria Schmidt später im Publikumsgespräch, und das funktioniert.

Der Aufbruch: Im Mittelpunkt des Stückes steht jedoch nicht die Vernichtung des yezidischen Volkes, sondern der Aufbruch der Gemeinschaft, der vor allem von Frauen im Sinjar ausgeht. Dieser Aufbruch startet im Zerstörten, im Krieg. Es fängt an mit dem Korridor, den die HGK und YPG errichteten, um die Yezid*Innen aus den Bergen, in denen sie sechs Tage ohne Wasser und Essen gefangen waren, zu befreien. Frauen und Männer kämpften hier gemeinsam.

Feride erzählt ihren Weg nach der Befreiung: Ihre Geschwister haben sich der YJŞ (den Yezidischen Selbstverteidigungseinheiten) angeschlossen. Sie selbst hat sich dem zivilen Flügel angeschlossen und besucht eine Schule, die von den Kurden errichtet wurde. Sie fragt ihren Vater, wie er mit den Entscheidungen seiner Töchter umgeht, wie es für ihn ist, dass keine von ihnen schnell heiraten möchte? Er erzählt, wie sich seine Einstellung geändert hat. Wie er früher dachte, dass seine Töchter keine Bildung bräuchten und dies jetzt anders sieht. Er ist stolz auf sie.


Foto: Matthias Stutte, Theaterfotograf am Theater Krefeld Mönchengladbach

Viele Strukturen, wie etwa der Yezidische Frauenrat, werden wieder neu aufgebaut. Dijwar, die Sprecherin des Frauenrats, erzählt: „[Die Frau] ist die Zukunft, sie ist die Kraft unserer Gemeinschaft. In unserer Religion war die Kraft der Frau wesentlich. Das ist in den letzten Jahrhunderten verwässert worden. Jetzt holen sich die Frauen diese Kräfte zurück, knüpfen an die uralten Werte der Achtung der Frau wieder an.“

In all der Zerstörung und in dem Wissen, dass noch immer tausende Frauen in den Händen des IS sind, entstehen neue emanzipierte Strukturen. „Diese Entwicklung ist natürlich sehr fragil. Die Frauen stoßen auch auf viel Widerstand aus den konservativen Reihen ihrer Gesellschaft“, sagte Eva Spott, Schauspielerin, im Publikumsgespräch. Doch genau deshalb heißt das Stück „Der Aufbruch“.

Das Stück endet mit zwei ganz konkreten Frage an die Zuschauenden, mit denen auch ich diesen Blogeintrag beenden möchte: Wie stehen die politischen Entwicklungen hier im Zusammenhang mit denen im Sinjar und was können wir von den yezidischen Frauen lernen?

Das Theaterstück wird in Mönchengladbach noch am 26. Mai aufgeführt und soll 2020 nach Krefeld kommen. Kooperation mit anderen Theatern sind derzeit in Planung.

Quellen:
Theater Krefeld-Mönchengladbach, 2019/2020, „Zu Gast im Singal“
Theater Krefeld-Mönchengladbach, Heft 179, „Jin Jiyan-Der Aufbruch”
GfbV, pogrom-bedrohte Völker, 2/2015, „Yeziden, eine uralte Gemeinschaft kämpft ums Überleben“

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