Vor dem Bundeskanzleramt versammelten sich gestern (23.08.) Menschen aus Armenien, aus Arzach/Bergkarabach und ihre Unterstützer*innen, um gegen die Hungerblockade Aserbaidschans gegen Arzach zu protestieren und die Bundesregierung laut und deutlich zum Handeln aufzufordern. Denn die Menschen in Arzach sind in großer Bedrängnis: Seit acht Monaten blockiert Aserbaidschan den Latschin-Korridor, über den die Enklave versorgt wird.
Rede: Dr. Tessa Hoffmann; Foto: Nora Erdmann
Liebe Freundinnen und Freunde,
wir stehen hier in Bestürzung und aus mehreren Gründen. Denn zum einen pro-testieren wir gegen die mehr als acht Monate andauernde Hungerblockade gegen Arzach und die gleichnamige Republik; zum anderen macht uns das Schweigen unserer Regierung betroffen.
Die Hungerblockade Aserbaidschans erfolgt durch die Sperrung der einzigen Landverbindung, die Arzach mit der Republik Armenien verbindet. Eine Lebens-ader, durch die bis zur Blockade Güter und Personen unter dem Schutz russischer Friedenstruppen in beide Richtungen reisen konnten. Seit Mitte Juni verhindert Aserbaidschan selbst die Zufuhr von Medikamenten und Grundnahrungsmitteln, mit dem Ergebnis, dass zweitausend Babys keine Nahrung mehr zur Verfügung steht, dass sich die Zahl der Früh- und Fehlgeburten verdreifacht hat und am 15. August ein erstes Opfer des Hungertodes zu beklagen war, der 40jährige Karo Howhannisjan.
Die Wirtschaft in Arzach ist eingebrochen, auch infolge des akuten Treibstoffmangels. Bauern können deshalb die Ernte nicht einbringen, sie werden außerdem von aserbaidschanischen Streitkräften immer wieder bei der Feldarbeit beschossen. Mitte Juli musste aus Treibstoffmangel der öffentliche Personennah-verkehr eingestellt werden. Auch Behinderte können nicht mehr versorgt sowie Kinder in der Schule unterrichtet werden. Lussine Karachanjan, die Vertreterin von UNICEF in Armenien, schreibt in einem Offenen Brief:
„Bis zum 1. September sind es nur noch einige Tage. Dann öffnen weltweit alle Kindergärten, Schulen, Colleges und Universitäten Ihre Türen. Nur in Arzach wird nicht die Glocke den Beginn des neuen Unterrichtsjahres einläuten. Aber ihr Schweigen wird jedermanns Ohr verletzen und niemand unberührt lassen. Tausende unterernährter Kinder und Studenten werden sich an diesen terroristischen Akt anzupassen haben. (…) Stoppt den Hungertod Tausender Kinder, denen man bereits das Recht auf Bildung genommen hat. Um der Liebe Gottes willen, verhindert die Hölle (…). Verhindert es, denn sonst wird es zum Garanten für die Zerstörung der menschlichen Zivilisation.“
Die Blockade verfolgt die genozidale Absicht, die armenische Bevölkerung von Arzach zu eliminieren, entweder durch Massenvertreibung oder Massenverhungern. Der aserbaidschanische Präsident Ilham Alijew selbst hat dies bei mehreren Gelegenheiten bekräftigt, unter anderem in seiner Erklärung vom 29. Mai 2023, als er den Arzacher Armeniern drohte: “Es wird keine dritte Einladung geben. Entweder kommen sie selbst demütig zu uns, oder die Ereignisse werden sich in eine andere Richtung entwickeln. Wir haben alle Möglichkeiten, jede Operation in dieser Region durchzuführen.“ Alijew rief die Arzacher Armenier auf, ihr Parlament aufzulösen; Präsident Arajik Harutjunjan müsse sich ergeben und alle bisherigen Minister und Abgeordneten ihre Posten verlassen. Originalton Alijew: „Nur unter dieser Bedingung kann man von einer Amnestie sprechen.”
Bereits seit August vorigen Jahres warnen das Lemkin-Institut für Genozidprävention sowie die International Association of Genocide Scholars vor einer erheblichen Genozidgefahr für die Armenier des Südkaukasus. Inzwischen wertet auch der erste Chefankläger des Internationalen Strafgerichtshofs, Luis Moreno Ocampo, die Hungerblockade als Genozid. Es ist blanker Zynismus, wenn Aserbaidschan nun versucht, den Armeniern die Schuld an ihrem Hungertod zuzuschreiben, mit der Behauptung, dass Aserbaidschan ja eine Versorgung über Agdam angeboten habe. Tatsächlich handelt es sich dabei um eine Unterwerfungsgeste. Die Verbindung mit Armenien soll auf Dauer gekappt werden, die Armenier Arzachs sollen sich bedingungslos Aserbaidschan unterwerfen. Oder ihre Heimat aufgeben. Oder verhungern.
Was Aserbaidschan in und gegen Arzach tut, ist nicht einfach eine humanitäre Katastrophe und auch keine Folge eines angeblichen Territorialstreits zwischen Armenien und Aserbaidschan. Es ist seit über einhundert Jahren die Verletzung des Selbstbestimmungsrechts einer indigenen Mehrheitsbevölkerung mit aktuell genozidalen Folgen. Diese zu verhindern hat die Staatengemeinschaft bisher versäumt. In seinem jüngsten Red Alert führt das Lemkin-Institut aus:
“Das Lemkin-Institut möchte klarstellen, dass Staatsoberhäupter wie der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan, der russische Präsident Wladimir Putin, die Präsidentin der Europäischen Kommission Ursula von der Leyen, der Präsident des Europäischen Rates Charles Michel, der französische Präsident Emmanuel Macron, der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz, US-Präsident Joe Biden, US-Außenminister Anthony Blinken und alle anderen Staatsoberhäupter, die die Straffreiheit geschaffen haben, mit der Präsident Alijew jetzt agiert, direkt für den Tod dieses Mannes – Karo Howhannisjan – verantwortlich sind, ebenso wie für alle anderen, die infolge dieser Blockade sterben könnten. Sie sind möglich-erweise auch mitschuldig am Verbrechen des Völkermordes.“
Kommen wir zur deutschen Mitverantwortung: Während des Ersten Weltkrieges war die deutsche Regierung als wichtigste Militärverbündete des Osmanischen Reiches hervorragend über den Genozid des nationalistischen Jungtürkenregimes an den indigenen Christen und insbesondere an anderthalb Millionen Armeniern informiert. Der damalige Reichskanzler weigerte sich allerdings, sich von der Vernichtungspolitik der Jungtürken öffentlich zu distanzieren, um das Militärbündnis nicht zu gefährden.
Heute sind es energiewirtschaftliche Eigeninteressen, die westliche Politiker ein-schließlich der bundesdeutschen schweigen lassen. Aserbaidschan bzw. Ilham Alijew gelten als zuverlässige Energielieferanten. Mit der Folge, dass Deutschland erneut einem Genozid an Armeniern und Armenierinnen untätig zuschaut. Was aber zur Genozidprävention erforderlich wäre, sind wirksame Sanktionen und eine internationale Luftbrücke. Was ebenfalls notwendig wäre ist die Einsicht, dass angesichts der bereits von Aserbaidschan in Vergangenheit und Gegenwart an den Armeniern Arzachs verübten Verbrechen ein Zusammenleben unter aserbaidschanischer Herrschaft einem international lizensierten Genozid gleichkäme. Das Existenzrecht der Arzacher Armenier ist eng mit deren Selbstbestimmungs-recht verbunden. Uns sollte auch eine unter Aserbaidschanern in Baku unlängst durchgeführte Umfrage nachdenklich stimmen. Ihr zufolge halten es nur 38 Prozent der Respondenten für möglich, mit den Arzacher Armeniern zusammenzuleben. 67 Prozent glauben dagegen, dass die Karabacher Armenier entweder getötet oder vertrieben werden.
Wir werden heute unserem Bundeskanzler und der übrigen Bundesregierung einen Appell überreichen, in dem wir nicht nur die sofortige Aufhebung der Blockade und wirksame Sanktionen gegen Aserbaidschan fordern, sondern auch die Wahrung des Selbstbestimmungsrechts seiner armenischen Bevölkerung.
gemeinsam mit GfbV-Referentin Sarah Reinke
Rednerin:
Dr. Tessa Hofmann engagiert sich seit Jahrzehnten für Armenien, erst für die Anerkennung des Genozids an den Armeniern und anderen Gemeinschaften 1914/15 durch die Bundesrepublik Deutschland und heute gegen die Blockade und für eine deutsche Außenpolitik, die sich hier gegen den drohenden Genozid einsetzt. Sie ist Gründerin und Leiterin der „Arbeitsgruppe Anerkennung, gegen Genozid für Völkerverständigung“ und langjährige ehrenamtliche Koordinatorin der GfbV zu diesem Themenfeld.