Australiens Aboriginals kämpfen um den Erhalt ihrer Sprachen und Identität

In Cairns, gelegen im nördlichen Teil des Bundesstaates Queensland in Australien, stehe ich in einem kleinen Souvenirshop voller Instrumente, Boomerangs und Kunstwerke. Auf dem hölzernen Schild über dem Eingang steht „Aboriginal Culture & Arts“.

Von Judith Leona Bergkemper; Foto: Steve Evans via Flickr

Kurz zuvor hat mir der Ladenbesitzer stolz von seiner Familie erzählt, die diesen Laden schon seit Jahrzehnten betreibt und alles aus eigener Hand anfertigt. Neben mir bewundern noch einige andere Touristen die Kunst, die die Kultur der Aboriginal People so greifbar erscheinen lässt und neugierig macht auf Australiens Geschichte. Mir fällt auf, wie jung das heute existierende Australien eigentlich ist. Hier drin sind all diese Schätze etwas Besonderes, doch draußen auf der Straße ist das Gegenteil der Fall.

Die Spannungen zwischen den Aboriginal People und den weißen Australiern sind deutlich zu spüren. Noch am selben Morgen wurde ich Zeuge einer Prügelei zwischen zwei Frauen, die sich in ihrem Zorn an den Haaren zogen und ineinander verkeilt förmlich über die öffentliche Straße rollten. Die Frauen kannten sich nicht persönlich und es war traurig, mit anzusehen, wie sie ihre kulturellen Unterschiede nicht überwinden konnten. Unterschiedliche Hautfarben und Vorurteile bestimmten ihr Handeln. Und dies war kein Einzelfall. Immer wieder kam es in den kurzen Tagen, die ich hier verbrachte, zu derartigen Auseinandersetzungen, die verhindern, dass die Geschichte des fünften Kontinents in Vergessenheit gerät. Es stimmt mich traurig, dass auf der einen Seite mit der Kultur der Aboriginals um Besucher*innen geworben wird, während auf der anderen Seite Ungleichheiten und Rassismus den eigentlichen Alltag bestimmen.

Bild: Kuranda, Australien via Judith Bergkemper

„Guck ihnen nicht in die Augen, die werden aggressiv“ ist tatsächlich ein Satz, den ich zu hören bekomme, als uns auf der Straße laut lachende Aboriginal Jugendliche begegnen. Ich frage mich, ob von Menschen oder Tieren die Rede ist, und schäme mich ein wenig dafür, dass ich als weiße Europäerin erst jetzt ein Gefühl dafür bekomme, wie es sein muss, einer nicht respektierten Minderheit anzugehören.

Ein paar Tage später besuche ich Kuranda, ein kleines Dorf mitten im Regenwald nicht weit von Cairns entfernt, in dem bereits vor 10.000 Jahren die Tjapukai Aboriginal People lebten. Heute ist Kuranda eine beliebte Touristenattraktion und auch hier ist es üblich, die anwesenden Indigene zu ignorieren. Bei Begegnungen wechseln Touristen die Straßenseite und sehen betreten weg. Die Situation erinnert mich an Fußgänger*innen, die Obdachlose passieren. Eine Situation, die im Alltag nichts Ungewöhnliches ist und jeder schon einmal erlebt hat. Im nahe gelegenen Park sitzt eine Gruppe Indigener, die etwas feiern. Ein älterer Mann ruft Passant*innen gelegentlich immer wieder etwas hinterher und ich sehe, wie Gesichter sich angewidert abwenden. In meiner Sturheit sehe ich jedoch keinen Grund, den Park zu meiden und laufe einfach weiter. Als ich mich der Gruppe nähere, erhasche ich einen Blick auf das Gesicht des Mannes, der mich mit provokativem Ausdruck ansieht und kurz davor zu sein scheint, auch mir etwas entgegenzurufen. Sein Gesichtsausdruck ändert sich, als ich ihn anlächele. Ich versuche, ihm ein wenig Respekt entgegenzubringen und nach ein paar weiteren Momenten nickt er mir zu und wendet sich ohne ein weiteres Wort wieder seiner Gruppe zu.

Einfach so.

Ich frage mich, warum es so schwierig ist, sich selbst eine Meinung zu bilden, bevor willkürlich die Kommentare anderer Leute kopiert werden. Ich denke, es ist kein Wunder, dass Indigene auffällig werden, wenn sie von Geburt an in eine Schublade gesteckt werden, alltäglicher Diskriminierung ausgesetzt sind und noch nicht einmal die Chance bekommen, etwas aus ihrer Situation zu machen. Die Zahlen sprechen an dieser Stelle für sich. Obwohl Rassendiskriminierung in Australien seit 1976 illegal ist, sind die Aboriginal People bis heute gefangen in einem ungleichen System. Ein Großteil der indigenen Bevölkerung lebt in Armut, hat schlechtere Chancen auf Bildung, gesundheitliche Versorgung oder einen Arbeitsplatz. Heutige Generationen haben außerdem die Traumata der Vorfahren geerbt, die durch Verdrängungen vom eigenen Land, dem Zerstören der eigenen Kultur und auseinandergerissenen Familien herrühren. Alles, womit sie sich identifizieren konnten, wurde ihnen genommen und dieser Prozess des Identitätsverlustes hält bis heute an.

Bild: Michael Coghlan via Flickr

Ein wichtiger Bestandteil sind die indigenen Sprachen, die heute gefährdet sind, komplett verloren zu gehen. Die Sprache gilt als Schlüssel zur Kultur und der Verbindung mit den Vorfahren und dem eigenen Land. Menschen die eigene Sprache zu nehmen, bedeutet, einen schweren Übergriff auf ihre Identität und die persönliche kulturelle Autonomie auszuüben. Es ist nachgewiesen, dass dieser Verlust mit physischen Konsequenzen, wie zum Beispiel Depressionen, Fettleibigkeit oder Diabetes einhergeht. Es gibt immer mehr wissenschaftliche Belege, dass es eine starke Verbindung zwischen dem kulturellen und physischen Wohlergehen von Individuen gibt. Die Beschäftigung mit der anzestralen Sprache hat demnach reale und messbare Effekte auf die mentale und körperliche Gesundheit.

Bild: Lillian Bowen im Pama Language Centre via GfbV-Archiv

Aufgrund dessen wurde im Jahr 2015 durch den Zusammenschluss mehrerer First Nations Organisationen das Pama Language Centre gegründet, das für den Fortbestand der gefährdeten indigenen Sprachen der Cape-York-Halbinsel in Australien arbeitet. Die Cape York Region ist die Geburtsstätte einer der ältesten noch fortbestehenden Kulturen der Erde und allein auf dieser Halbinsel im Norden von Queensland gibt es um die 159 Sprachvarietäten.

Deshalb bezieht sich die Arbeit des Language Centres darauf, indigene Sprachen mithilfe von professionellen Linguisten zu dokumentieren und zu revitalisieren. Dafür werden beispielsweise Lehrmaterialien für Grundschulen, E-Books, Onlinekurse sowie Kompositions- und Malworkshops entwickelt. Ziel ist eine kulturell reiche und vielsprachige Zukunft der Cape-York-Halbinsel. Indigene sollen ihre anzestrale Sprache als erste Sprache fließend sprechen können, ohne dadurch Nachteile gegenüber der englischsprachigen Bevölkerung zu haben. Das Pama Language Centre arbeitet mit Aboriginals der gesamten Region zusammen, um ihre Chancen und Lebensbedingungen zu verbessern und die ihnen unrechtmäßig genommenen Rechte und Ressourcen, wie Gesundheit oder Arbeit, zurückzugewinnen.

Dies stellt eine enorme Herausforderung dar, denn die Sprecher*innen bedrohter Sprachen leben typischerweise isoliert und marginalisiert und ohne die wirtschaftlichen Ressourcen, um ihr eigenes kulturelles Überleben zu sichern. Gefährdete Sprachen zu erlernen, ist zudem nicht vergleichbar mit dem Erlernen einer Weltsprache, wie Französisch, Englisch oder Mandarin. Oftmals gibt es keine Lehr-/ oder Lernressourcen oder qualifizierte Lehrer*innen. Womöglich existieren keine Wörterbücher, nur noch wenige lebende Muttersprachler*innen und ein großer Zeitdruck, weil die meisten fließenden Sprecher*innen der Großelterngeneration angehören.

Aufgrund dieser Situation, wurde das Projekt „Pamamooves“ durch das Pama Language Centre gegründet. Dabei handelt es sich um das Kreieren einer Applikation, mit der Sprachlehrer*innen und Privatpersonen lerneffektive Sprachsituationen virtuell erschaffen können. Aus animierten Bausteinen können Szenen zusammengestellt werden. Schüler*innen sehen Situationen und lernen, die Ausdrücke in der Zielsprache direkt mit den Bildern von Gegenständen, Handlungen und Zuständen zu verknüpfen, wodurch die Sprachvermittlung über das Englische umgangen wird. Das Projekt befindet sich noch in der Entwicklungsphase und arbeitet derzeit nur mit der Sprache Guugu Yimidhirr, die in Hopevale angesiedelt ist. Zukünftig soll die Applikation frei verfügbar sein und von Sprachaktivist*innen weltweit für weitere hochgefährdete Sprachen angepasst werden.

Bild: Michael Loke via Flickr

Mittlerweile konnten bereits einige positive Effekte durch die Revitalisierung anzestraler Sprachen verzeichnet werden. Dazu gehört ein gesteigertes Engagement sowie Lernerfolge von Schüler*innen. Des Weiteren leiden nur halb so viele Angehörige der First Nations, die ihre anzestrale Sprache sprechen, an schlechter Gesundheit wie diejenigen, die nur Englisch sprechen. Der Zigaretten- und Alkoholkonsum ist deutlich niedriger, es gibt weniger Schulabbrecher*innen und die Suizidrate ist ebenfalls gesunken.

Trotz Komplikationen und mangelnder Förderung für die Sprachforschung ist in Australien eine wachsende Nachfrage für die Einbeziehung von First Nations Sprachen in Schulkurrikula und Universitätskursen zu verzeichnen. Das Pama Language Centre wird durch das Ministerium für Kommunikation und die Künste der australischen Bundesregierung gefördert. Das ist ein wichtiger Schritt, denn der Kampf von Minderheiten ist hoffnungslos, solange der Wert von Vielfalt nicht von den Institutionen und Unternehmen der Mächtigen anerkannt und gefördert wird. Der globale Kontext wird zunehmend von Übersprachen dominiert, doch einzigartige gefährdete australische Sprachen sind genauso zentral für das Verständnis der Tiefkultur und die Geschichte des Kontinents, wie es das Hebräische für Israel und Altgriechisch und Latein für Europa sind.

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