Zehntausende Roma, Aschkali und Balkan-Ägypter waren vor, während oder im Anschluss an den Konflikt im Kosovo von 1998/1999 gezwungen, vorübergehend Zuflucht in Westeuropa zu suchen. Mit Ende des Kosovokrieges begann die Bundesregierung, den temporäreren Aufenthaltsstatus von zehntausenden Angehörigen der Volksgruppe nicht zu verlängern und die Betroffenen abzuschieben. Darunter auch viele Kinder, die in Deutschland geboren wurden. Doch ist Abschiebung wirklich die einzige Lösung?
von Kurt Weber; Foto: lomarog via pixabay [Symbolbild]
Vielfach wird der Begriff “mangelnde Integrationsfähigkeit“ zur Rechtfertigung für Abschiebung herangezogen. Kritisch besehen lässt dieser Begriff fragwürdige und willkürliche Interpretationen zu. Die abschiebenden Behörden und Politiker machen es sich einfach. Inhaltlich verschleiernd vermeiden sie vom Herkunftsland der Kinder zu sprechen. Stattdessen sagt man, die „Familie“ stamme aus dem Kosovo und deklariert die hier geborenen und aufgewachsenen Kinder Kraft Herkunft der Eltern als Familienmitglieder de facto zu Ausländern, zu Immigranten eines Landes, das diese Kinder vermutlich nie kennenlernten. Dass diese Kinder gemäß der Genfer Flüchtlingskonvention ein Anrecht auf Staatsbürgerschaft in Deutschland hätten – ein Recht, das juristisch in keinem Zusammenhang mit der Integration der Eltern stehen dürfte -, wird dabei ignoriert.[1] Vielmehr gibt es eine Rechtsprechung, die völlig undurchsichtig ist. Man sagt, die „Familie“ sei nicht integrationsfähig und müsse daher abgeschoben werden. Damit wird eine Art Sippenhaft praktiziert, indem man die Kinder pauschal und ohne Differenzierung als „nicht integrationsfähig“ deklariert. Ihre Herkunft aus Deutschland wird ignoriert und ausschließlich der Herkunftsstatus der Eltern als relevant angesehen. Wenn darin eine Logik zu finden ist, dann eher eine zurechtbiegende Logik von Willkür und Ausgrenzung. Mit Rechtsstaatlichkeit, wie ich sie verstehe, hat dies nichts zu tun.
Zwar steht die Familie unter dem besonderen Schutz des Grundgesetzes. Man geht davon aus, dass es im Normalfall für die Kinder am besten ist, in der Familie zu bleiben. Aber der Gesetzgeber sorgt auch dafür, dass das Kindeswohl in besonderen Fällen über dem Schutz der Familie steht. Die schwerwiegenden Konsequenzen für Romakinder im Falle einer Abschiebung sind von extremer Härte. Daher sollte es in diesen Fällen verpflichtend sein, das Kindeswohl als übergeordnetes Recht einzustufen.
Dem Kindeswohl zuliebe gibt es zwei Möglichkeiten: entweder man schiebt die Familien nicht ab, oder man differenziert innerhalb der Familien, schaut nach, was die Ursachen „mangelnder Integrationsfähigkeit“ – sofern objektiv belegbar und rechtlich tragfähig – sind und handelt entsprechend. Bei einer solchen Differenzierung kann dann mitunter festgestellt werden, wer oder was den Hauptteil des Problems ausmacht. Darüber kann man streiten, rechtlich wie moralisch. Doch Absicht dieser Überlegung ist es, einen Kompromiss zu finden, um die Kinder vor den katastrophalen Folgen einer Abschiebung zu schützen und damit deren Wohlergehen zu sichern. Die Überlegung ist, dass in den patriarchalisch geprägten Familienstrukturen, wie sie bei Roma weit verbreitet sind, die Väter hauptverantwortlich für Integrationsdefizite sein könnten. Wenn dazu in einigen Fällen noch kriminelle Aktivitäten und/oder häusliche Gewalt durch die Väter hinzukämen, dann, so die Überlegung, sollten einzig die Väter abgeschoben werden. – Es wäre höchst verwerflich, die Kinder für die Problematik ihrer Väter mit Abschiebung zu sanktionieren.
In jedem Fall sollten den Familien bzw. Restfamilien Integrationshelfer zur Seite gestellt werden. Insbesondere gilt dies im Falle der ausschließlichen Abschiebung der Väter. Dies würde Aufwand bedeuten. Aber so gäbe man den Kindern eine Chance auf Zukunft in unserer – ihrer – Gesellschaft. Ist das moralisch gesehen nicht den Aufwand wert?
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[1] FAZ , Gastbeitrag von Ferdinand Weber, vom 31.03.2016
„Die Integrationsannahme versagt nämlich für anerkannte Flüchtlinge im Sinne der Genfer Flüchtlingskonvention. Sie haben nach drei Jahren Aufenthalt einen Rechtsanspruch auf Erteilung einer Niederlassungserlaubnis, des stärksten Aufenthaltsstatus im deutschen Recht. Der Rechtsanspruch ist unbedingt und stellt nur auf Zeitablauf, nicht auf Integrationsbemühungen ab. Zwar haben die Eltern keinen Einbürgerungsanspruch, gleichwohl erwerben aber deren nach achtjährigem Aufenthalt geborenen Kinder die deutsche Staatsangehörigkeit, obwohl die vom Gesetz idealtypisch begründete Integrationserwartung an die Eltern offenkundig verfehlt wird.“
[Zum Autor]
KURT WEBER ist seit Jahrzehnten in der Menschenrechtsarbeit aktiv. Seit 2014 führt er als ehrenamtliches Mitglied des Bundesvorstands die Geschäfte der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV).