Solidarität und chaotische Verhältnisse – Russland und die ukrainischen Flüchtlinge

Krieg ist immer am schlimmsten für die Zivilbevölkerung. Der militärische Konflikt im Osten der Ukraine ist dabei keine Ausnahme. Viele Anwohner flüchteten vor den Kämpfen nach Russland, doch dort fanden sie eine Bürokratie, deren Mühlen langsam mahlt, die durchdrungen ist von Korruption und deren Mitarbeiter überlastet sind. Nun bröckelt auch die anfängliche Solidarität in der russischen Zivilgesellschaft mit den Flüchtlingen.

von Jonas Eichhorn; Foto: Sasha Maksymenko

Die Behörden im südrussischen Gebiet Rostov ächzen unter dem nicht mehr enden wollenden Strom von Flüchtlingen aus der nahen Ukraine. Es ist der Sommer 2014 und in der Ostukraine tobt der Kampf zwischen der ukrainischer Armee und den so genannten Separatisten. Diese werden von Russland mit Soldaten, Waffen, Munition und militärischem Know-how unterstützt. Wer kann, flieht. Viele Menschen aus dem Donbass fürchten sich jedoch vor der Flucht in die Westukraine, sie fürchten die in den russischen Medien ohne Unterlass gezeigten „Faschisten” im Westen des Landes. Vielmehr fühlen sie sich mit dem benachbarten Russland verbunden. Die meisten haben dort Verwandte oder Freunde, bei denen sie fürs Erste unterkommen können. Auch alte Schulen und Krankenhäuser stehen als Unterkünfte für die Flüchtlinge zur Verfügung. Gleichzeitig existieren große Flüchtlingscamps im Rostover Gebiet. Viele vertrauen den russischen Behörden mehr als den ukrainischen.

Seit dem Ausbrechen des Ukrainekonfliktes im März 2014 sind bis heute etwa eine Million Ukrainer nach Russland eingereist. Von russischen Behörden wird diese Zahl immer genannt, wenn es um offizielle Flüchtlingszahlen aus der Ukraine geht. Allerdings gingen bisher in Russland nur 355.000 Anträge auf kurzzeitiges Asyl ein, 6000 haben den Flüchtlingsstatus beantragt, rund   96.000 die russische Staatsbürgerschaft. Der Antrag auf „kurzzeitiges Asyl“ unterscheidet sich in Russland von einem „Asylantrag“. Nur nach einem bewilligten Asylantrag verfügt man über einen vollständigen Flüchtlingsstatus. Der bürokratische Aufwand für ein „kurzzeitiges Asyl” ist hingegen sehr viel geringer, jedoch gilt es nur für ein Jahr. Für viele Flüchtlinge kommt nur dieser Status infrage. Sie hoffen, dass die Kämpfe in der Ukraine bald enden und sie wieder  in die Heimat zurückkehren können.

Die Differenz zwischen der Zahl der in Russland ankommenden Ukrainer und der Anträge auf kurzzeitiges Asyl kann man damit erklären, dass auch weiterhin -wie auch schon vor der Krise- viele Ukrainer zum Studium oder zur Arbeit nach Russland abwandern. Letztere sind keine Flüchtlinge. Andererseits beantragt ein Teil der ukrainischen Zufluchtsuchenden kein kurzzeitiges Asyl, da bei Bewilligung der Pass abgegeben werden muss. Den Pass abgeben, bedeutet eben auch,  Verwandte –beispielsweise Eltern oder Großeltern- die noch in den umkämpften Gebieten geblieben sind, ohne Unterstützung zurück zu lassen. Mit einem Pass könnte man sie im Zweifelsfall schnell nach Russland nachholen. Ohne ihn wären solche Rettungsaktionen, bei denen man die Grenze überqueren muss, nicht möglich. Zudem waren die russischen Behörden besonders im Sommer 2014 mit dem plötzlichen Flüchtlingsansturm überlastet, die Flüchtlinge standen stundenlang in langen Schlangen, um sich registrieren zu können. Dazu kommt, dass der Registrierungsprozess selbst für ein kurzzeitiges Asyl aufwändig und beschwerlich ist. Das hält viele Flüchtlinge bis heute davon ab, einen Antrag zu stellen.

Ukrainische Flüchtlinge stehen im Dezember 2014 im Rostover Flüchtlingslager an, um Sozialleistungen zu beantragen. Manche von ihnen müssen stundenlang warten.

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Flüchtlinge aus der Ukraine wurden anfangs von der russischen Bevölkerung wärmstens empfangen. Es herrschte eine große Solidarität. Laut einer Umfrage der russischen „Stiftung Öffentliche Meinung“ (FOM) vom September 2014 befürworteten 54% der Russen, aus der Ukraine Geflüchtete solange zu unterstützen, bis Frieden erreicht sei. 29% der Befragten sprachen sich dafür aus, den ukrainischen Flüchtlingen dabei zu helfen, sich dauerhaft in Russland niederzulassen. Diese Solidaritätswelle machte sich in verschiedenen Formen bemerkbar. Im Internet entstanden Seiten, auf denen kostenlose Hilfe angeboten wurde, Familien nahmen gänzlich fremde Ukrainer bei sich auf und die Spendenbereitschaft war hoch. Diese Solidarität nimmt allerdings  immer mehr ab, schreibt Lidija Grafova vom russischen „Forum der Migrationsorganisationen“: „Mir persönlich sind einige Fälle bekannt, bei denen Familien Verwandte aus der Ukraine mit offenen Armen aufnahmen. Aber nach einiger Zeit wurde die Situation kompliziert: Die meisten russischen Familien leben selbst bescheiden, über einen langen Zeitraum eine zweite Familie zu versorgen ist ihnen einfach nahezu unmöglich.” Auch Svetlana Gannushkina, Vorsitzende der Moskauer „Bürgerinitiative“, die sich für die Rechte von Geflüchteten in Russland einsetzt, wird von dem Nachrichtenportal gazeta.ru zitiert: „Im letzten Frühling gab es wirklich eine Welle von Solidarität mit den Flüchtlingen, aber im Moment lässt diese leider merklich nach“. Sie meint damit im Besonderen auch die Arbeit der Behörden. Zwar werden ukrainische Flüchtlinge vom russischen Staat beispielsweise bei der Wohnungssuche oder auch finanziell unterstützt, jedoch gibt es auch Berichte über den Umgang mit ihnen, die erschaudern lassen. So wurden beispielsweise eine Gruppe von 190 Flüchtlingen ohne ihr Wissen in die sibirische Stadt Sacha geflogen, tausende Kilometer von ihrer Heimat entfernt. Nach der Ankunft wurde ihnen klar, dass die versprochenen Unterkünfte und Arbeitsplätze nicht existierten. Der Rückweg für sie ist derzeit unmöglich, denn nur der Hinflug wurde vom Staat finanziert und für die Finanzierung eines Rückfluges reichen die privaten finanziellen Reserven in den allermeisten Fällen nicht aus.

Der russische Staat hat nach Angaben der russischen Mediengruppe „RosBiznesKonsalting“ (RBK)  seit Anfang der Krise umgerechnet rund 40,3 Mio. € für die ukrainischen Flüchtlinge ausgegeben. Verhältnismäßig viel. Der Großteil dieser Summe geht an die Kommunen, um Flüchtlingsunterkünfte zu errichten. Allerdings verschwindet ein Teil dieser Ausgaben wegen der hohen Korruption: Aufträge werden nicht effizient vergeben, es wird in die eigene Tasche gewirtschaftet, Unterkünfte einfach nicht errichtet. Leidtragende sind die Flüchtlinge, die den chaotischen Verhältnissen ausgesetzt sind.

Zwei ukrainische Flüchtlingskinder im Rostover Flüchtlingscamp schauen gemeinsam Fernsehen. Viele Flüchtlingsunterkünfte sind bis heute nicht erbaut worden, weil das zur Verfügung gestellte Geld durch Korruption verschwand.

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Wichtig für die ukrainischen Flüchtlinge  wäre es derzeit, ihnen bei der Arbeitssuche zu helfen. Für geflüchtete Ukrainer ist es allerdings schwierig, eine offizielle Arbeitsstelle zu finden. Bis heute ist es nicht möglich, mit dem Status „kurzzeitiges Asyl“ eine offizielle Arbeitserlaubnis zu erhalten. Viele der Flüchtlinge arbeiten trotzdem. Ohne Arbeitserlaubnis sind sie jedoch der Willkür ihres Arbeitgebers ausgesetzt und verdienen in den meisten Fällen zu wenig, um damit über die Runden zu kommen.  Dabei wären die ukrainischen Flüchtlinge mit einer Arbeitserlaubnis und ausreichenden eigenen Verdiensten weniger vom russischen Staat abhängig, ihre Assimilierung würde reibungsloser verlaufen und Russland würde von ihrer Arbeitskraft profitieren. Ukrainer sind auf dem russischen Arbeitsmarkt sehr beliebt. Sie sind oft gut ausgebildet und sprechen fließend Russisch.

Je länger sich der Konflikt in der Ostukraine hinzieht -und gerade in den letzten Tagen kommt es wieder vermehrt zu Kämpfen–  desto klarer wird, dass viele der geflüchteten Ukrainer längerfristig in Russland bleiben werden. Ihre Häuser sind zerstört und die Möglichkeit, in die Westukraine umzusiedeln, kommt für viele nicht infrage: Durch den längeren Aufenthalt in Russland fürchten sie sich vor Schikanen ukrainischer Behörden. Auch wird die Solidarität in der russischen Gesellschaft weiter nachlassen – ganz abgesehen von der wirtschaftlich schwierigen Lage, in der Russland sich momentan befindet und die die hohen Ausgaben für Flüchtlinge problematisch werden lässt. Es ist notwendig, dass der russische Staat sich klar macht, wie er in Zukunft mit dem Problem der ukrainischen Flüchtlinge in Russland umgehen will. Der Zustrom ukrainischer Flüchtlinge ist eine Folge des russischen Agierens im Donbass: Ohne die militärische Beteiligung Russlands wäre der Konflikt in der Ukraine weder derart eskaliert, noch würde er so lange andauern. Russland trägt also eine große Verantwortung für das Schicksal dieser vielen Flüchtlinge, deren Heimat bis heute umkämpft ist.

[Zum Autor]

JONAS EICHHORN leistete seinen Zivildienst bei der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau und studierte anschließend in Heidelberg Osteuropa- und Ostmitteleuropastudien. Im Moment ist er Praktikant im GUS-Referat der GfbV im Berliner Büro.

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