Viele von uns können es sich kaum vorstellen, wie es sein muss, einen Krieg zu erleben, geschweige denn zwei. Die älteren Menschen in der Ostukraine wissen es. Nach ihren Erfahrungen aus dem Zweiten Weltkrieg sind sie nun wieder zwischen Fronten und Gefechten gefangen.
von Jonas Eichhorn; Foto: Alex Kühni/Flickr [Symbolbild]
Das Telefon von Ksenia Ponomarova steht seit Beginn des Krieges im Donbass nicht mehr still. Ihre Nummer hat sich schnell im Internet verbreitet. Die Menschen rufen sie an, weil sie sich Hilfe von ihr erhoffen: Ponomarevo leitet die kleine Hilfsorganisation Res.Publika, die sich um geflüchtete Senioren und Invaliden zu kümmert. Sie fährt auch in die sogenannte „graue Zone“, wie das Gebiet um die Frontlinie in der Ostukraine genannt wird. Viele der alten Menschen dort harren trotz ständigem Beschuss bis heute in ihrem Heimatort aus. Oft haben sie keine andere Möglichkeit, als zu bleiben. Wo sollten sie sonst wohnen? Wie sollten sie von ihrer kleinen Rente an einem anderen Ort leben?
In ihren Dörfern sind sie weitgehend von Hilfe abgeschnitten. Hilfslieferungen, die meistens Lebensmittel, Kleidung und Medikamente beinhalten, gibt es zwar. Doch diese Lieferungen erreichen nur diejenigen, die auch in der Lage sind, sich stundenlang in langen Schlangen anzustellen. Für alte, kranke oder gebrechliche Menschen ist das oft ein großes Hindernis. Deshalb versucht Res.Publika direkt, besonders Bedürftigen Hilfe zu leisten. Aber die Kapazitäten dieser privaten Initiativen und kleinen Organisationen sind sehr begrenzt. Oft sind die alten Menschen daher ihrem eigenen Schicksal überlassen.
Ein alter Mann steht vor seiner ausgebrannten Wohnung. Das Feuer war durch Bombardement entfacht worden, das sein Wohnhaus in Donezk getroffen hatte.
Embed from Getty ImagesWer eine Möglichkeit dazu hat, flieht. Die einen gen Russland, die anderen suchen Zuflucht in den ukrainischen Gebieten jenseits der sogenannten Separatistengebiete. Für alte Menschen ist die Flucht aus ihrer Heimat oft noch viel belastender als für ihre Kinder und Enkelkinder: Jüngere Generationen können sich schneller an die neue Umgebung gewöhnen. Sie können versuchen, eine Arbeit zu finden, auch wenn das mit Schwierigkeiten verbunden ist. Alte Menschen sind dagegen in ihrer Not oftmals viel weniger sichtbar. Sie sind bettlägerig oder sie haben keine Kraft, sich in lange Schlangen für Kleidung oder Nahrung anzustellen. Dass sie genauso auf Hilfe angewiesen sind wie andere, wird so leicht vergessen. Auch ihr oftmals schweres Schicksal, das teils noch durch die Erfahrungen des Zweiten Weltkriegs, der Besatzung oder auch von Deportation oder Flucht geprägt ist, gerät so aus dem Gedächtnis.
Auf der Facebook-Seite beschreibt Res.Publika schon seit einem Jahr viele Einzelschicksale von hilfsbedürftigen alten Menschen aus den umkämpften Gebieten. Hier finden sich erschütternde Fotos von Kranken oder Gebrechlichen, die Medikamente oder auch nur warme Decken brauchen. Da sind beispielsweise Sergej Vladimirovitsch Bondarenko und seine Frau Zinaida Nikolaevna Bondarenko. Sie hatten Glück, ihnen wurde ein Haus im Gebiet Chernigev, das nordöstlich von Kiev liegt, überlassen. Dennoch haben sie große Probleme, sie sind faktisch blind, ihre Pension ist verschwindend gering und beide leiden zudem unter Diabetes. Das nötige Blutzuckermessgerät kann sich das alte Ehepaar nicht leisten. Oder Herr Makeev, ehemaliger Schachtarbeiter aus dem Donbass, der jetzt im Kiever Gebiet wohnt. Er leidet unter Phantomschmerzen in seinen schon vor langem amputierten Beinen. Er benötigt dringend starke Schmerzmittel. Aber wie soll er sich sie ohne Hilfe bei seiner kleinen Rente leisten?
Ältere Bewohner stehen vor den Ruinen ihres Hauses in Donezk. Einige Städte wurden bereits bis zu 60 Prozent zerstört, doch das komplette Ausmaß der Zerstörung im Osten der Ukraine ist noch nicht abzusehen.
Embed from Getty ImagesIst man als Binnenflüchtling in der Ukraine registriert, bekommt man als Rentner umgerechnet 18€ im Monat. Arbeitsfähigen Menschen und Kindern stehen sogar nur rund neun Euro im Monat zu, allerdings können diese durch kleine Nebentätigkeiten etwas dazu verdienen. Rentner und Invaliden haben diese Möglichkeit nicht und so reicht das Geld bei Weitem nicht aus, um über die Runden zu kommen und die nötige Medizin zu kaufen. In Extremsituationen werden zudem viele ältere Menschen schneller krank. So sind durch die psychische Belastung gesundheitliche Probleme noch viel größer als unter normalen Umständen. „Spätestens nach zwei Monaten erkranken die meisten betagten Geflüchteten. Anfangs freuen sie sich, dass sie in Sicherheit sind, dass sie nicht mehr das ständige Pfeifen der Granaten ertragen müssen. Aber dann, nach einiger Zeit, brechen alte Krankheiten wieder aus, oft auch psychisch bedingt“, berichtet Ksenia Ponomarova.
In der Stadt Dnepropetrovsk, der zweitgrößten ukrainischen Stadt, ca. 250 km nordwestlich von Donezk entfernt gelegen, aber auch in anderen größeren ostukrainischen Städten wie Charkov (Charkiw), Zaparoschie oder Slaviansk, gibt es Anlaufstellen für die ankommenden Binnenflüchtlinge. Freiwillige Helfer koordinieren die Arbeit. Sie organisieren erste Hilfe, Kleidung, kostenlose Mahlzeiten. Das Allernötigste. Die ukrainische Regierung ist dagegen heillos überfordert mit der Unterstützung der Geflüchteten. Andere existentielle Probleme gibt es zuhauf: Einen Krieg im Osten des Landes, eine kurz vor dem Kollaps stehende Wirtschaft, eine äußerst knappe Staatskasse, die Korruption, die auch Janukovich überdauert hat und immer noch überall vorzufinden ist. Wären nicht die freiwilligen Helfer von Nichtregierungsorganisationen wie beispielsweise Res.Publika, Frolovskaja 9/11, VostokSOS, DonbassSOS, die Geflüchteten wären gänzlich ihrem eigenen Schicksal überlassen.
Res.Publika bringt älteren Menschen in den umkämpften Gebieten im Osten der Ukraine Kleidung, Decken und medizinische Versorgung. Da es den meisten Rentnern körperlich nicht möglich ist, sich stundenlang in Schlangen anzustellen, fehlt ihnen sogar das Nötigste zum Leben.
Als der Premierminister Arsenij Jazenjuk im März 2015 dem ukrainischen „Kanal 5“ ein Interview gibt und darüber spricht, wie die ukrainische Regierung mit dem Problem der Binnenflüchtlinge umgehen möchte, wird deutlich, dass auch er nicht so recht weiß, wie seine Regierung handeln wird, denn was er vorschlägt, ist viel zu dürftig, um die Situation ernsthaft zu verbessern. Die Errichtung von Flüchtlingsunterkünften erwähnt er nicht einmal; kein Wort verliert er über Pläne zur Integration der Binnenflüchtlinge in anderen Teilen der Ukraine oder zur sozialen und psychologischen Hilfe. Auch gibt es keine konkreten Pläne für Programme zur Unterstützung bei der Arbeitssuche oder zur medizinischen Hilfe alter geflüchteter Menschen.
Analysiert man die letzte Statistik der UNO-Flüchtlingshilfe (UNHCR) über ukrainische Binnenflüchtlinge, fällt auf, dass vor allem junge Leute versuchen, in die Umgebung der ukrainischen Hauptstadt zu ziehen und nicht im Osten der Ukraine bleiben. Im Vergleich zum Kiever Gebiet ist beispielsweise im Gebiet Donezk, in dem sich mit Abstand die meisten Binnenflüchtlinge aufhalten, der Anteil der Senioren mit fast bei 70% besonders hoch. Im Gebiet Luhansk machen sie gar 75% der Bevölkerung aus. Daran kann man gut erkennen, dass die alten Menschen oft in ihren Heimatorten oder in Orte fliehen, die sich nicht weit von ihrem Dorf oder ihrer Stadt befinden. Die meisten Binnenflüchtlinge leben also im Osten der Ukraine, in oder unweit jener Gebiete, die umkämpft waren oder es immer noch sind.
Eine ältere Frau verlässt ihren Schlafraum in einer der Flüchtlingsunterkünfte der ukrainischen Millionenstadt Charkiw. Die meisten älteren Menschen bleiben in der Nähe ihres Heimatorts, während die jüngeren oft nach Kiew flüchten.
Embed from Getty ImagesDa der Staat mit der Versorgung der Binnenflüchtlinge überfordert ist, sind zivilgesellschaftliche Initiativen umso wichtiger. Sie übernehmen in vielen Fällen die Aufgaben, für die eigentlich die ukrainischen Behörden verantwortlich wären: Sie organisieren humanitäre Hilfe, evakuieren Menschen aus den Kampfgebieten, unterstützen diese bei der Arbeits- und Wohnungssuche, versuchen das öffentliche Image der Binnenflüchtlinge zu verbessern. Denn vor allem in der Westukraine und in Kiev steht die Zivilbevölkerung den Menschen aus der Ostukraine schon seit Jahren skeptisch gegenüber. Es existieren viele Vorurteile auf beiden Seiten. Das Misstrauen liegt vor allem daran, dass die Menschen im Osten des Landes traditionell eher pro-russische Parteien und Politiker in der Ukraine unterstützt haben. Die Wahlergebnisse der letzten Jahre und die Antimaidan-Demonstrationen vor allem im Osten des Landes sind vielen Westukrainern und prowestlichen Einwohnern Kievs noch im Kopf geblieben. Und es gibt Flüchtlinge aus der Ostukraine, deren Meinung über Westukrainer und die neue Regierung in Kiev sehr von russischen Staatsmedien geprägt ist. Diese ungleichen Meinungen und Erfahrungen machen das Zusammenleben streckenweise sehr schwierig.
Seit dem Ausbrechen des Ukrainekonfliktes hat der UNHCR ca. 1,36 Million Binnenflüchtlinge gezählt. Dies ist jedoch nur die offizielle Zahl. Die Dunkelziffer ist um einiges höher: Schon im März 2015 schrieb die Koordinatorin der NGO „VostokSOS“, Aleksandra Dvoreckaja, dass die Zahl der „Internally displaced persons“ (IDPs) inoffiziell bei rund zwei Millionen läge. Die Differenz zwischen den offiziellen Angaben und der Wirklichkeit ist darauf zurückzuführen, dass viele Binnenflüchtlinge sich erst gar nicht als solche registrieren. Einerseits aus Angst vor Schikanen bei einer möglichen Rückkehr in die besetzten Gebiete, anderseits aus dem Grund, dass man kaum von diesem offiziellen Binnenflüchtlingsstatus profitiert: Bei der Wohnungssuche ist man auf sich selbst gestellt, die monatlichen 18€ Unterstützung für Rentner und Invaliden helfen kaum, die Lebensumstände zu verbessern. Auch ermöglicht der Status weder eine kostenlose medizinische Versorgung noch gibt es etwa eine Ermäßigungen bei Transport- und Kommunalkosten.
Ein Mann schiebt eine alte Frau im Rollstuhl durch die Straßen von Debaltseve, einer kleinen Stadt zwischen Donezk und Luhansk. Invaliden und Rentner bekommen monatlich 18€ Unterstützung vom ukrainischen Staat. Das Geld reicht nicht aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten.
Embed from Getty ImagesKsenia Ponomarova klagt über die geringe Spendenbereitschaft für die Binnenflüchtlinge. „Ukrainer haben oft selbst zu wenig Geld, um zu spenden. Auch sind sie müde vom Krieg, viele haben keine Motivation mehr, sich um Probleme anderer zu kümmern. Wenn gespendet wird, dann oft für die Armee. Vor allem für die Unterstützung ältere Menschen ist es sehr schwierig, Geld aufzutreiben.“ Schaut man sich die Angaben über Spenden der internationalen Gemeinschaft an, wird einem bewusst, wie katastrophal die Lage ist: Laut der UN sind von den veranschlagten 316 Millionen Dollar Unterstützung bisher nur 111 Millionen Dollar an Hilfsgeldern versprochen oder ausgezahlt worden. Das sind nur rund 35% der so dringend benötigten finanziellen Mittel. Ein Armutszeugnis angesichts einer der größten Flüchtlingswellen innerhalb Europas seit dem Zweiten Weltkrieg. Leidtragende sind die Flüchtlinge, im Besonderen Kinder und alte Menschen.
Die freiwilligen Helfer der Organisation Res.Publika machen trotzdem weiter. Und das, obwohl Ksenia Ponomarova sogar schon mal verschleppt wurde und Ehrenamtliche, die die älteren Menschen versorgen, in Kellern festgehalten wurden. Tag für Tag kann man neue Fotos und kleine Videos von alten Menschen auf ihrer Facebook-Seite anschauen. Die einen sind geflüchtet, die anderen in den umkämpften Gebieten zurückgeblieben. Sie alle sind auf Unterstützung angewiesen. Die Arbeit von Res.Publika ist für viele der alten betroffenen Menschen überlebensnotwendig. Sie hilft dabei, die Lebensumstände Einzelner zu verbessern und auf die Situation alter, unter dem Konflikt leidender Menschen aufmerksam zu machen.
[Zum Autor]
JONAS EICHHORN leistete seinen Zivildienst bei der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial in Moskau und studierte anschließend in Heidelberg Osteuropa- und Ostmitteleuropastudien. Ab Herbst wird er seinen Master in Osteuropastudien in Berlin beginnen.
[Hinweis]
Wer helfen möchte, kann sich gerne an unsere GUS-Referentin und Leiterin des Berliner Büros, Sarah Reinke, wenden: berlin@gfbv.de