Senegal: Ausbeutung und Missbrauch von Kindern an Koranschulen

Im gesamten Senegal werden rund 100.000 Kinder, die sogenannten talibés, im Auftrag ihrer Koranlehrer (marabouts) gezwungen, täglich um Geld, Lebensmittel, Reis oder Zucker zu betteln. Unter den Augen der senegalesischen Regierung werden die Kinder in den Koranschulen (daraas) oft geschlagen, angekettet und anderen Formen körperlichen und psychischen Missbrauchs ausgesetzt.

Von Elias Stumpf, Nadja Grossenbacher; Foto von Hennie Stander, Unsplash

Neben der unmenschlichen und erniedrigenden Behandlung kommt die Rechtsverweigerung in Zusammenhang mit der Staatenlosigkeit, die eine Folge des Menschenhandels und der fehlenden zivilrechtlichen Registrierung ist, hinzu.

Wer sind die talibés?

Der Terminus talibé ist ein französisches Wort. Es leitet sich von dem arabischen Wort „talib“ ab, was „eine Person, die nach Wissen strebt“ bedeutet. Die talibés sind fast ausschließlich Jungen im Alter zwischen vier und achtzehn Jahren und wandern meist aus ländlichen Regionen und über Landesgrenzen hinweg in die großen Städte Senegals ein. Auch Mädchen studieren in daaras, allerdings in weitaus geringer Anzahl. Die Mehrheit der Koranschülerinnen bettelt nicht und lebt nicht in den daaras. Guinea-Bissau, Mauretanien, Guinea, Gambia und Mali gehören zu den häufigsten Herkunftsländern der talibés. Sie legen oft große Entfernungen zurück, um die städtischen daraas zu besuchen. Die talibés werden entweder von ihren Eltern, von einem anderen Familienmitglied, auf eigene Faust oder in einer Gruppe von Kindern von Koranlehrern oder ihren Assistenten, von denen viele in die ländlichen Gebiete und Grenzregionen reisen, um talibés zu rekrutieren, in die daaras gebracht. Die Koranlehrer oder ihre Assistenten gehen meistens auf Eltern und Familien zu, um ihnen vorzuschlagen oder sie darum zu bitten, dem marabout eines oder mehrere ihrer Kinder anzuvertrauen, damit er ihnen den Koran lehrt. Laut einer Befragung mehrerer marabouts von Human Rights Watch (HRW) gibt es mehrere Gründe der Eltern für die Entsendung ihrer eigenen Kinder. Zu diesen zählen, dass sie selbst als Kind in die Stadt gebracht wurden, um talibés zu werden, dass sie die Stadt als Zentrum religiöser Bildung und Wissen sehen ebenso wie ökonomische Gründe. Einige Familien können ihre Kinder nicht ernähren und sehen darin eine finanzielle Entlastung.  Der Schein eines vielversprechend klingenden und erkenntnisreichen Bildungsweges ihrer Kinder trügt.

Ein Alltag geprägt von Gewalt und Missbrauch

Das Straßenbild senegalesischer Großstädte, wie Dakar, Saint-Louis, Thiés und Touba ist geprägt von dichtem Verkehr und Menschenmengen, aus denen barfüßige, zerschlissene Fußballtrikots tragende und einen eimerartigen Behälter haltende Jungen herausblitzen. Sie ziehen durch die Stadt und versuchen von vorbeilaufenden Passant*innen Geld oder Lebensmittel abzubetteln. Bei diesen Jungen handelt es sich um die talibés, die eigentlich unter der Obhut des marabouts Inhalte des Korans lernen und zu Essen bekommen sollten. Stadtessen schicken die marabouts ihre Schüler auf die Straße, damit sie Geld für sie einbringen und für ihre eigene Mahlzeit sorgen. Laut einem Bericht von HRW legen die marabouts Tagesbeträge von 500 CFA-Francs und 550 CFA an Freitagen (heiliger muslimischer Tag des Gebets) fest, die ihre Schüler*innen einbringen müssen. Werden diese Summen nicht erreicht, drohen ihnen Schläge, Auspeitschungen und andere physische Bestrafungen. HRW hat dokumentiert, dass drei Kinder im Zeitraum von 2017 und 2018 an den Folgen schwerer Schläge gestorben sind. Neben zahlreichen Fällen von körperlichen Misshandlungen und Vernachlässigungen durch marabouts, ist es auch zu Fällen tatsächlicher oder versuchter Vergewaltigung sowie sexuellen Missbrauchs gekommen. Darüber hinaus sind die daraas in einem miserablen Zustand. Sie verfügen teilweise über keine Sanitäranlagen und die Kinder schlafen auf dem nackten Fußboden. In den sanierungsbedürftigen Koranschulen kam es auch zu Bränden, bei denen mehrere talibés ums Leben gekommen sind. Aufgrund dieser katastrophalen Umstände bleiben die Kinder, solange es geht, von den daraas entfernt oder ergreifen die Flucht. HRW hat Fälle dokumentiert, bei denen Kinder, die bei der Flucht erwischt wurden, anschließend gefesselt oder angekettet wurden.

Die Rolle von Eltern und Familie

Viele Eltern wissen nicht, dass ihre Kinder, die sie einem marabout anvertraut haben, betteln müssen, misshandelt werden oder unter entsetzlichen Lebensbedingungen leben. Genauso wenig, dass sie teilweise von einer Stadt in eine andere transportiert werden. Aber auch die Eltern spielen eine Rolle bei der Aufrechterhaltung dieser Praktiken. Ob aus Armut oder aus anderen Gründen, viele Eltern schicken ihre Kinder in die daaras, ohne für den Lebensunterhalt der Kinder aufzukommen und ohne sich zu vergewissern, dass die Kinder gut behandelt werden. In vielen Fällen verlieren die talibés über Jahre hinweg den Kontakt zu ihren Eltern – einige werden regelrecht ausgesetzt. In anderen Fällen, in denen talibés von Sozialarbeitenden an ihre Eltern zurückgegeben wurden – entweder nachdem sie weggelaufen waren oder nachdem sie von der Straße geholt worden waren – haben die Eltern das Kind später an dieselbe daara zurückgegeben, wodurch der Kreislauf von Neuem begann.

Marabouts fürchten keine strafrechtliche Verfolgung

2016 hat sich die senegalesische Regierung unter Präsident Macky Sall auf Druck von Kritiker*innen dem Leid der talibés angenommen und Sozialarbeitende entsendet, um die Kinder von den Straßen zu holen. Diese brachten folgenschwer die Kinder in der sogenannten ersten Phase teilweise zurück in die daraas, wo sie der Gewalt der marabouts erneut ausgesetzt waren. In einer überarbeiteten zweiten Phase 2018 wurde darauf geachtet, dass die Kinder nicht zurück zu den daraas gebracht werden, sondern ausschließlich zu ihren Familien. Allerdings drohte den Kindern auch hier, wie bereits erwähnt, eine Rücksendung zu den daraas. In keinen der beiden Phasen wurde auch nur ansatzweise über die strafrechtliche Verfolgung der marabouts nachgedacht. Im Gegenteil, Sozialarbeitende wurden bewusst aufgefordert, Fälle von Missbrauch oder Ausbeutung von talibés der Justiz nicht zu melden. HRW stellte fest, dass Staatsanwält*innen und Richter*innen häufig dem Druck von religiösen Führern, der Gemeinschaft oder Politiker*innen ausgesetzt sind, die Fälle fallen zu lassen, die Anklagen zu reduzieren oder mildere Strafen zu verhängen. Dieser Druck ist dem gesellschaftlichen Ansehen der marabouts geschuldet. Die Koranschulen sind tief in der Geschichte Senegals verankert und Gläubige versprechen sich durch die Entsendung ihrer Kinder „gute Muslime“ zu sein. Auch das Betteln der Kinder wird laut Antoinette Kona Zoumanigui als Beitrag zur Entwicklung des moralischen Charakters angesehen. Die talibés selbst können auch nicht gegen ihre Lehrer vorgehen, weil sie teilweise ohne Ausweisdokumente über die Grenze geschmuggelt wurden und entsprechend staatenlos sind. Durch das gesellschaftliche Ansehen sind die marabouts beinahe unantastbar. Die marabouts müssen für ihre grausamen Taten an den talibés zur Rechenschaft gezogen werden! Ihr religiöser Status darf sie nicht vor einer strafrechtlichen Verfolgung schützen!


Quellen

https://www.hrw.org/report/2019/06/11/there-enormous-suffering/serious-abuses-against-talibe-children-senegal-2017-2018

https://www.hrw.org/report/2017/07/11/i-still-see-talibes-begging/government-program-protect-talibe-children-senegal#_ftn4

https://www.hrw.org/report/2019/06/11/there-enormous-suffering/serious-abuses-against-talibe-children-senegal-2017-2018#_ftn172


https://harvardhrj.com/2021/04/the-plight-of-talibe-children-in-senegal/#_ftn11

https://www.hrw.org/report/2019/12/16/these-children-dont-belong-streets/roadmap-ending-exploitation-abuse-talibes

https://www.amnesty.sn/recrutement-consultant-sur-les-enfants-talibes-au-senegal/

Kommentar verfassen Antwort abbrechen