Die Mansi sind zahlenmäßig klein, aber ihre Sprachen von unschätzbarer Vielfältigkeit. Um ihre Dialekte zu schützen, unterstützt Anna Voronkova Kinder in der Region Swerdlowsk ihre Sprachen zu erhalten. Doch bei ihrem letzte Besuch in einem Internat erlebt sie ein viel größeres Problem: Die Kinder vertragen das Essen nicht und es gibt keine Alternativen.
Ein Bericht von Anna Voronkova, übersetzt von Tjan Zaotschnaja, redigiert von Regina Sonk; Foto: Irina Kazanskaya | Flickr
„Ich habe einen Kurs für mansischen Kinder gegeben, wir haben Postkarten gebastelt”, sagt Anna Voronkova. Sie ist Lehrerin in Moskau und auf Anweisung des Instituts für Linguistik der Russischen Akademie der Wissenschaften ins Landesinnere gereist, genauer gesagt in die Region Swerdlowsk bei Jekaterinburg. Ihr Auftrag: Sie soll mit indigenen Kindern arbeiten, um dabei kreativ die Sprachen zu erhalten.
„Ein Kind malte ein Bild und unterschrieb es mit: ‚Ich will essen‘. Ich war etwas verwirrt und verstand dann, dass die Kinder in der Schule das Essen verweigern und deswegen ständig über Bauchschmerzen klagen. Für sie gibt nicht das richtige Essen.“
Anna kennt die Mansi von Ivdel, der nördlichsten Stadt von Swerdlowsk, schon seit langem. Es gibt nur vierzig von ihnen, und sie sprechen einen einzigartigen Dialekt, den die Lehrerin auf ihren Recherchereisen studiert. Mansi (in deutschsprachigen Raum auch „Mansen“ genannt) gehören mit einigen Zehntausenden zu den kleinen Völkern des Nordens. Im Norden des Gebiets Swerdlowsk leben heute etwa 250 Menschen. Gerade ihre Sprachen und die vielen Dialekte sind einzigartig.
„Die Kinder werden gezwungen, Lebensmittel zu essen, die sie normalerweise nicht essen“
„Acht Kinder leben ständig im Internat”, sagt Anna. „Ihre Eltern führen ein traditionelles Leben, leben im Wald und arbeiten dort. Die nächstgelegene Schule befindet sich 120 km entfernt im Dorf Polunochnoye. Es besteht Schulpflicht, die Kinder sind 12 bis 17 Jahre alt, sodass sie keine andere Wahl haben, als ihre Eltern zu verlassen. Wenn sie eine Familienschule hätten, wäre es vielleicht besser.“
Anna ist empört: „Die Kinder werden gezwungen, Lebensmittel zu essen, die sie normalerweise nicht essen – Buchweizen, Schwarzbrot, Milchprodukte. Angeblich klagen drei der acht Kinder deshalb über ständige Magenschmerzen.“ Wenn sie nicht essen, werden sie angeschrien, meinen die Kinder.
Mansi sind überwiegend laktoseintolerant: Ihrem Körper fehlen die für die Verarbeitung von Laktose erforderlichen Enzyme. Wenn Laktose in den Körper gelangt, verursacht sie Magenschmerzen. Aus diesem Grund weigern sich mansische Kinder, z.B. Milchbrei zu essen.
Die Köch*innen kennen die Essgewohnheiten der Mansi nicht, und die Lehrer*innen wissen nichts über die Kultur dieses kleinen Volkes. Anna meint: „Sie schreien sie an, sie verstehen nicht, warum es für Kinder schwierig ist, Russisch zu lesen. Die Kinder kommunizieren in ihrer Landessprache. Die Eltern erziehen ihre Kinder so, dass Mansi immer noch ihre Muttersprache ist.“
Anna erzählt, dass sie schon vor zwei Jahren für ein Comic-Projekt für die Erhaltung der indigenen Sprachen vor Ort war. Denn in der Schule wird kein spezifisches Wissen vermittelt. Es gibt zwar Räume, die im folkloristischen Stil dieser Völker eingerichtet sind, aber niemand weiß etwas über sie. Für die kleinen Völker aus dem Norden gibt es staatliche Fördertöpfe, demnach könnte für die acht Kinder problemlos gekocht werden. Die Schule hat auch einen separaten Speiseplan für sie – aber es ist derselbe wie für die anderen, ohne dass ihre Ernährung berücksichtigt wird!
„Ich verstehe nicht, wie das möglich ist. Auf der einen Seite gibt es Steinbrüche, in denen Edelmetalle abgebaut werden, und auf der anderen Seite gibt es mansische Kinder, die wie in einem Gefängnis leben”, sagt Anna. „Eltern versuchen, nicht in die Seelen ihrer Kinder einzudringen, weil das nicht üblich ist. Und die Kinder versuchen geduldig zu sein und sich nicht zu beschweren, um ihre Eltern nicht zu belasten. Die Pandemie hat das Internat in ein Gefängnis verwandelt. Kommen die Eltern zu Besuch, können sie nicht in das Haus gehen, um zu sehen, unter welchen Bedingungen ihre Kinder leben. All dies wird mit Sicherheitsmaßnahmen begründet.“
Die Reaktion der Beamten war fast so schockierend wie der Hunger der Kinder
Als sie die Probleme der mansischen Kinder in der Schule in der Region Swerdlowsk, sah, wandte sie sich mit ihrer Beschwerde an die örtliche Verwaltung. „Die Verwaltung sagte mir, dass es dieses Problem nicht gäbe, dass ich es erfunden hätte. Es ist seltsam, dass die Leute seit zwei Jahren darüber reden, aber die Beamten es nur von mir gehört haben.“, sagt Anna
Bereits am 15. August 2021 besuchte Evgeny Kuyvashev, Gouverneur der Region Swerdlowsk, den Norden der Region und traf sich mit Kindern und deren Familien, die sich unter anderem über die schlechte Ernährung in den Schulen beschwerten.
Natalia Anyamova, Mutter von drei Kindern, die in der Schule leben, erzählte der Nowaya Gazeta, dass sich die Kinder über das Essen beschweren. Natalia selbst arbeitet als Köchin im Wald und meldet sich wegen der schlechten Kommunikationverbindung nur selten. Wenn die Kinder in den Ferien kommen, essen sie sich satt. Ihre Tochter hat eine Gastritis entwickelt und muss behandelt werden.
Nachdem Natalia und andere Mütter eine Beschwerde an den Gouverneur und das Bildungsministerium in Ivdel geschrieben hatten, schalteten die Beamt*innen die Polizei ein. Anna wurde zum Amt gebracht, wo sie eine Erklärung abgeben musste, dass sie niemanden gegen die Schule aufgebracht hatte. Auch die Direktorin der Schule, Olga Galaschewa, wehrt sich gegen Anschuldigung und bezichtigt, Anna Voronkova, die Familien aufzustacheln.
Anna wird wohl weitermachen, sie wird weiterhin die Kinder unterrichten und sie unterstützen, ihre Sprachen zu erhalten. Und, sie wird sich mithilfe einer Organisation vor Ort bemühen, dass die Kinder das Essen bekommen, das ihnen guttut. Und: die Novaya Gazeta wird weiterhin darüber berichten!
Den Originalartikel ist in der Novaya Gazeta in russischer Sprache hier erschienen.