In Syrien leben einige kleinere Völker, von denen in den vergangenen Wochen und Monaten kaum jemand sprach. Auch sie könnten zwischen die Fronten der Konfliktparteien geraten. So auch die Tscherkessen und Turkmenen.
Von Kamal Sido; Foto: nathan.groth via Flickr
Die Tscherkessen: Wird der Nordkaukasus ihre neue alte Heimat?
Angesichts des Bürgerkriegs in Syrien machen sich nun viele Tscherkessen, die in Deutschland, der Türkei, den USA und in Russland leben, Sorgen um die Angehörigen ihrer Volksgruppe. Tscherkessischen Quellen zufolge haben hunderte syrische Tscherkessen Anträge bei russischen Behörden auf Rücksiedlung in ihre angestammten Gebiete im Nordkaukasus gestellt. Im 18. und 19. Jahrhundert leisteten ihre Vorfahren dort mehr als 100 Jahre gegen die russische Kolonisation Widerstand. Am 21. Mai 1864, der Tag, an dem die russisch-kaukasischen Kriege offiziell zu Ende gingen, begann die kollektive Vertreibung der Kaukasus-Völker. Rund 1.000.000 Tscherkessen wurden vom Zarenreich aus über das Schwarze Meer ins Osmanische Reich zwangsverschifft. Auf dem Weg ins Osmanische Reich kamen tausende von ihnen ums Leben; verhungerten, ertranken auf der Überfahrt im Schwarzen Meer oder an den Folgen der grausamen Deportationen durch die Zarenarmee.
Nicht alle konnten von der Zarenarmee vertrieben werden. In der autonomen Nordkaukasusrepublik Kabardino-Balkarien bezeichneten sich bei der Volkszählung 2010 in Russland rund 490.000 Menschen von insgesamt 860.000 Bewohnern als „tscherkessisch“. Etwa 107.000 Tscherkessen leben in Adygeja (25,2 Prozent der Bevölkerung) und 57.000 (11,9 Prozent) in der autonomen Republik Karatschai-Tscherkessien. Doch auch in den Ländern Türkei, Syrien, Ägypten und Jordanien, die Gebiete des Osmanischen Reichs waren, leben immer noch viele Nachfahren jener Flüchtlinge. In Syrien gehen Schätzungen von 80.000 aus.
Nach dem Zerfall des Osmanischen Reiches Ende des Ersten Weltkrieges kamen die syrischen Tscherkessen 1920 unter französische Mandatsverwaltung. Sie standen den Franzosen wiederholt gegen aufständische Araber zur Seite. Deshalb war das Verhältnis zwischen Tscherkessen und Arabern nach dem Abzug der britischen und französischen Kolonialmächte 1946 stark belastet. Als die syrischen Tscherkessen jedoch im arabisch-israelischen Krieg von 1948/49 auf arabischer Seite unter dem Kommando eines Tscherkessen kämpften, kam es zur Versöhnung zwischen den Bevölkerungsgruppen. Tscherkessen war es nun auch erlaubt, im syrischen Staatsdienst zu arbeiten. Auf diese Weise verstärkte sich aber auch gleichzeitig die Arabisierung der syrischen, überwiegend sunnitischen Tscherkessen. Tscherkessische Kultur, Tradition und Sprache gingen infolgedessen zu einem großen Teil verloren.
Vor dem nächsten arabisch-israelischen Krieg 1967 waren syrische Tscherkessen auch in zwölf Dörfern in den Golanhöhen beheimatet. Der Anführer der ersten Tscherkessen, die sich hier ansiedelten, hieß angeblich Jölen Bey. Von dessen Namen soll sich die Bezeichnung “Golan” ableiten. Nach dem Krieg wurden die Golanhöhen von Israel besetzt und annektiert. Viele Tscherkessen flohen und zogen nach Damaskus.
Tscherkessen. Wenn jemand von diesem kaukasischen Volk gehört hat, dann wahrscheinlich während der Olympischen Winterspiele in Sotschi 2014. Dort war einst ihre Heimat, aus der sie im 19. Jahrhundert deportiert wurden. In den Ländern Türkei, Syrien, Ägypten und Jordanien leben immer noch viele Nachfahren jener Flüchtlinge.
Embed from Getty ImagesFoto: Jordan Pix via GettyImages
Bis September 2015 konnten lediglich 1.500 syrische Tscherkessen nach Russland übersiedeln. Seit dem militärischen Einsatz Russlands in den Syrienkrieg sind alle Ausreisebestrebungen der Tscherkessen auf Eis gelegt. Die 1.500, die nach Russland übersiedeln durften, werden nur von zivilgesellschaftlichen Organisationen, Freiwilligen und Verwandten unterstützt. Die einheimische Bevölkerung steht den Flüchtlingen momentan positiv gegenüber: Es wird Geld gesammelt von Privatpersonen und Unternehmen aus Moskau, Naltschik und anderen Orten, um die Neuankömmlinge zu unterstützen. So stellten beispielsweise tscherkessische Unternehmer immer wieder unentgeltliche Unterkünfte für die Flüchtlinge in ihren Hotels zur Verfügung.
Die Nichtregierungsorganisation „Pеrit“ koordiniert die Zusammenarbeit zwischen Tscherkessen in Syrien und im Kaukasus. Der Vorstand von „Perit“ ist besorgt: Bald sind die Ressourcen vor Ort ausgeschöpft, dann kann nur noch Moskau helfen. Eine Gefahr seien jedoch radikale Islamisten, die sich unter den geflüchteten Tscherkessen befinden, berichtet Iwan Suchow, Kaukasusexperte und Blogger in Moskau. Diese suchen rasch den Kontakt zu Gleichgesinnten vor Ort. Angeblich habe es schon „Vorfälle“ gegeben, sagt Suchow, ohne jedoch Details zu nennen. Momentan ist noch nicht abzusehen, ob und wie alle syrischen Tscherkessen, die den Wunsch haben, in den Nordkaukasus zurückzukehren, hier angesiedelt werden können. Die Behörden in den autonomen Republiken stehen den Rückkehrern recht offen gegenüber, die russische Regierung in Moskau hat jedoch etliche bürokratische Hürden aufgebaut, um die Rückkehr zu erschweren.
Bereits 2012 wurde auf Initiative des damaligen Senators des nordkaukasischen Gebiets Kabardino-Balkarien, Albert Kascharow, im Föderationsrat Russlands eine Rückführung ethnischer Tscherkessen aus Syrien erörtert. “Eigentlich geht es nicht um eine Rückführung, sondern um die Rettung dieser Menschen”, sagte 2015 der inzwischen verstorbene Kascharow der Deutschen Welle. (DW) Im gleichen Jahr, im September 2015, äußerte sich Maxim Schewtschenko, Mitglied des Menschenrechtsrates beim russischen Präsidenten, im Radiosender “Echo Moskwy” zum Thema tscherkessische Flüchtlinge aus Syrien. “Dänemark und Norwegen nehmen syrische Tscherkessen auf. Dort sind bereits mehr angekommen als in Russland, wo sie nicht akzeptiert werden”, sagte er. (DW)
Ob die in Russland angekommenen Tscherkessen aus Syrien im Kaukasus bleiben dürfen, hängt in der Regel vom Willen der Behörden in Moskau ab. Der russische Staat hält sich bisher aus allen Initiativen heraus, auch Hilfszahlungen bleiben aus. Ganz anders reagieren die Behörden in den autonomen Republiken. Sie prüfen hier Möglichkeiten, wie Grundbesitz verteilt, Häuser gebaut und Hilfeleistungen koordiniert werden können.
In der autonomen Republik Kabardino-Balkarien leben mehr als 490.000 Tscherkessen. Wie viele syrische Tscherkessen die Region aufnehmen kann, ist ungewiss.
Foto: Philip Milne via Flickr
Die Turkmenen: Seit Jahrhunderten in Syrien beheimatet
Die Turkmenen halten sich für besser gestellt als Tscherkessen, weil sie die Türkei als ihre Schutzmacht ansehen. So bezeichnet sich die Mehrzahl der Turkmenen aufgrund ihrer Sprache und Geschichte auch als Türken. Diese Nähe zum Nachbarstaat könnte den Turkmenen allerdings in größere Schwierigkeiten bringen, sollte ihnen seitens der arabischen Nationalisten oder Kurden Kollaboration mit der Türkei vorgeworfen werden.
Die syrischen Turkmenen, die überwiegend sunnitische Muslime sind, siedeln hauptsächlich in den Provinzen Aleppo, Latakia, in der Euphrat-Ebene und in Damaskus. Sie sind nicht zu verwechseln mit den Turkmenen in Zentralasien, denn sie sprechen einen türkischen Dialekt, der sehr stark vom Arabischen, Kurdischen und vom osmanischen Türkisch beeinflusst ist. Ethnologen und Linguisten klassifizieren die gesprochene Sprache als eine Form des Süd-Aserbaidschanischen, ebenfalls ein Idiom der Turksprachen.
Die Ursprünge der Turkmenen, die heute in den Ländern des Nahen Ostens leben, gehen zurück bis ins 10. Jahrhundert, als Turkmenen im Gebiet des heutigen Turkmenistans als Nomadenstämme umherzogen. Um 1250 – schon vor Beginn des Osmanischen Reiches – waren einige Regionen Nordsyriens von Turkmenen besiedelt. Während türkische Eroberer ihnen die türkische Sprache aufzwangen, mussten sie unter den Arabern, die Islamisierung begann bereits im 10. Jahrhundert, zum Islam konvertieren. Auch im heutigen Syrien unterliegen sie seit 1936 der starken Assimilierungspolitik der syrischen Regierung, welche eine Politik des Panarabismus[1] verfolgt.
Da Syrien die Eigenständigkeit der Turkmenen ignorierte und große Teile des Volkes assimiliert wurden, sind kaum offizielle Daten über sie verfügbar. Schätzungen zufolge gibt es etwa 140.000 Turkmenen in Syrien. Weil sie von der Regierung nicht als ethnische Gruppe anerkannt werden, haben sie keine kulturellen Rechte und weder Medien noch Schulunterricht in ihrer Muttersprache. Die Gründung von Vereinen, die ihre Interessen vertreten könnten, wurde ihnen bisher verweigert.
[1] Panarabismus ist eine nationalistische Bewegung, die einen homogenen arabischen Staat anstrebt mit gemeinsamer Sprache und Kultur, ohne jedoch unterschiedliche ethnische und religiöse Volksgruppen und deren Traditionen und Sprachen anzuerkennen und zu fördern.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Ausgabe “Blutvergießen in Syrien. Haben Minderheiten eine Zukunft im Vielvölkerstaat?” unserer Zeitschrift. Wir haben ihn hier in einer veränderten, aktualisierten Version abgedruckt.
Mehr zu den Tscherkessen:
Erinnerung und Anerkennung – Tscherkessen zwischen Gestern und Morgen
Interview mit Larisa Khadipash – Aktivistin für die Aufnahme von Tscherkessen aus Syrien in Russland
Russland, Syrien und der vermeintliche Kampf gegen den „Islamischen Staat“
[Zum Autor]
KAMAL SIDO ist Nahostreferent der Gesellschaft für bedrohte Völker. Er steht in direktem Kontakt mit Repräsentanten vieler Volksgruppen des Nahen Ostens. Erst Anfang 2016 war er durch das kurdische Gebiet Rojava in Nordsyrien gereist.