Am 14. Oktober steht in Australien ein Referendum an, das weitreichende Folgen für die Indigenen im Land haben kann – dort nur „The Voice“ genannt. Die Wahlberechtigten Australiens entscheiden über die Frage: Soll im australischen Grundgesetz ein beratendes Gremium für die Aboriginal Australiens und Torre Strait Islanders eingerichtet werden — oder nicht? Eine Frage, die einfach klingt. Die Lage ist aber kompliziert. Am Abend des 4. Oktober informierte die GfbV-Koordinatorin für Australien, Marion Caris, in einer Onlineveranstaltung über die Hintergründe des Referendums in Australien.
Text: Sarah Reinke | Foto Credits: Stephan Ridgway, Flickr, Matt Hrkac, Flickr
„Eine Sache habe ich nicht ganz verstanden: Sie sagen, dass heute mehr Kinder von Aboriginal Australians in staatliche Obhut genommen werden als zur Zeit der „Stolen Generations“, wie kann das sein?“ Diese erste Frage nach dem Vortrag der Australien-Koordinatorin der Gesellschaft für bedrohte Völker lag auch mir auf der Zunge. Ihre Antwort: „Die Strafmüdigkeit in Australien liegt bei zehn Jahren. Kinder und Jugendliche der Aboriginal Australiens sind überdurchschnittlich oft in Haft, sie werden schnell aus den Familien genommen. Ihre Situation ist oft so belastet und hoffnungslos“, erklärte Marion Caris. Das Risiko in Westaustralien als Jugendlicher inhaftiert zu werden sei für einen Aboriginal Australien 52 Mal so hoch wie für einen weißen Australier, führt Marion Caris weiter aus. Vor kurzen habe sich ein achtjähriges Mädchen das Leben genommen. Solche Zahlen und die Schicksale dahinter haben viele Ursachen.
In den späten 1780er Jahren wurde Australien kolonisiert, den Aboriginal Australians, die dort in 600 unterschiedlichen Völkern lebten, Land und Leben geraubt. Man habe wohl kalkuliert, dass sie nach und nach aussterben würden, sagt Marion Caris. Doch die Aboriginal Australiens leisteten Widerstand und das tun sie bis heute. Australien wird seit Jahrzehnten mehr oder wenig abwechselnd von zwei Parteien, den Liberals und der Labour Party regiert. Wenn man also zurückblickt, kann man Phasen von mehr oder weniger Unterdrückung, mehr oder weniger Rassismus und auch manchmal ehrliches Bemühen feststellen. Der Widerstand der Aboriginal Australiens reagiert auf diese Politik und setzt markante Zeichen der Selbstermächtigung. Dabei bleiben die Kernforderungen der Aboriginal Australians immer dieselben: Gleichberechtigung, ein „Treaty“ (also ein rechtsverbindlicher Vertrag zwischen Regierung und Aboriginal Australiens), Landrechte, Truth Telling (die ehrliche Aufarbeitung der Verbrechen gegen die Aboriginal Australians seit der Kolonisierung) sowie die Implementierung von Maßnahmen gegen die Diskriminierung von Aboriginal Australians im Justizsystem.
Doch diese Forderungen hat bislang noch keine Regierung umgesetzt. Das Referendum steht daher auch in einer langen Reihe von ähnlichen Versuchen und Vorschlägen. Manchmal, so Marion Caris, seien die politischen Anführer*innen der Aboriginal Australiens einfach müde, denn sie kämpfen seit so vielen Jahrzehnten. Sie hätten Gremien kommen und gehen sehen, ohne, dass sich substanziell etwas geändert habe im von Rassismus und Ungerechtigkeit geprägten Alltag der Aboriginal Australiens.
Ein wichtiger Aspekt dabei ist das Land. Australien, so Marion Caris, habe unendliche Bodenschätze, diese seien Reichtum und Schlüsselressource des Landes. Und dieser Reichtum wird von den Unternehmen ausgebeutet. Dafür nehmen sie und die politisch Verantwortlichen keine Rücksicht darauf, dass das Land eigentlich den Aboriginal Australians und Torre Strait Islanders gehört. Sie vermeiden daher, einklagbare Landrechte zu vergeben, sondern belassen es bei Landnutzungsrechten, die jederzeit entzogen werden können.
In dieser Gemengelage ist der Prozess hin zum Referendum zu verstehen. Vorgeschaltet waren Gespräche mit Vertreter*innen der Aboriginal Peoples und eine große Konferenz. Doch auch hier ging nicht alles mit rechten Dingen zu: Das Schlussdokument der Konferenz zum Beispiel war ein Blankopapier, das die Vertreter der Aboriginal Australians unterschrieben haben.
Als Zuhörerin fragt man sich spätestens an dieser Stelle des Vortrags, wie ein demokratischer Staat wie Australien eigentlich mit solch einer manipulativen Politik die ganzen Jahrzehnte durchkommen und im Ausland als sympathischer Staat wahrgenommen werden konnte. Eine Antwort hat Marion Caris: Die Millionen, die Australien erfolgreich in PR investiert, sowie das Medienmonopol der berüchtigten Murdoch-Presse haben das Image Australiens aufpoliert. Denn auch der Diskurs über das bevorstehende Referendum werde von den australischen Medien nur sehr parteiisch begleitet. Die kritischen Stimmen der Aboriginal Australiens fänden keinen Wiederhall, würden von Gegner*innen und Befürworter*innen des Referendums übertönt, so Caris. Den Gegner*innen aus dem konservativen Lager gehen die Bestimmungen des Referendums zu weit. Die kritischen Stimmen unter den Aboriginal Australians erinnern an die eigenen Forderungen, legen den Finger in die Wunde des tiefverwurzelten Rassismus. Sie fürchten, dass „The Voice“ nicht der notwendige Anfang eines Prozesses hin zu mehr einklagbaren Landrechten, Gleichberechtigung und historischer Gerechtigkeit sein könnte, sondern ein Schlusspunkt. Die Befürworter*innen sehen das Gremium als ersten Schritt hin zu mehr Gerechtigkeit für die Aboriginal Australians und Torre Strait Islanders.
Die Wahrscheinlichkeit, dass die Mehrheit der Australier*innen mit „Yes“ stimmt, ist tatsächlich gering. Von 44 Referenden in den letzten Jahrzehnten waren nur acht erfolgreich und zwar jene, die parteiübergreifend ins Parlament eingebracht wurden. Dies ist hier nicht der Fall – es bleibt also abzuwarten, wie der ungleiche und mit vielen Emotionen ausgetragene Diskurs um das Referendum die Gesellschaft in Australien weiter prägen wird.
Eins scheint sicher: Der Widerstand der Aboriginal Australians und Torre Strait Islanders ist ungebrochen, denn sie bleiben bei ihren Forderungen und stehen für ihre Leute ein. Darin wird sie auch die Gesellschaft für bedrohte Völker nach Kräften weiter unterstützen!