Ein Gespräch mit unserem Nahostreferenten Dr. Kamal Sido über die aktuelle Lage in der Erdbebenregion. Wir haben das Gespräch am 7. Februar geführt.
Interview: Magdalena Otterstedt; Transkript: Lisa Rabba
Lieber Kamal, du kommst selbst aus Afrin und hast Verwandte und Bekannte in der vom Erdbeben betroffenen Region. Welche Nachrichten erhälst du von vor Ort?
Am Tag des Erdbebens habe ich meine drei Geschwister in Nordsyrien, in Afrin, nicht erreichen können. Irgendwann habe ich sie erreicht. Zum Glück sind sie am Leben, die Häuser haben aber Risse bekommen. Eine kleine Stadt westlich von Afrin, etwa fünfzehn Kilometer, namens Dschindires, das ist die zweitgrößte Stadt in der Region Afrin, ist vollständig zerstört worden.
Viele Menschen sind draußen auf der Straße, vor allem die erste Nacht haben sie draußen verbracht. Viele Menschen können nicht in ihre Häuser, weil die Häuser Risse bekommen und sie Angst haben vor Nachbeben. Die Menschen haben aber auch Angst, dass die islamistischen Milizen, die von der Türkei unterstützt werden, ihre Häuser berauben. Deswegen verbringen sie Tag und Nacht direkt vor ihren Häusern.
Auf der türkischen Seite sieht es auch sehr schlimm aus. Zum Beispiel das Gebiet Hatay am Mittelmeer wird mehrheitlich von Alewiten, arabischen Alewiten in der Türkei besiedelt, dort kommt die Hilfe an, aber in Nordsyrien kommt weniger Hilfe an. Für diese Regionen fühlen sich weder Erdogan noch Assad verantwortlich. Im Bürgerkrieg durch Angriffe von Assad und Putin wurden diese Gebiete zerstört, Infrastruktur zerstört, und jetzt kommt das Erdbeben.
Die Menschen in der betroffenen Region – dort leben vor allem Kurd*innen, Alevit*innen und andere Minderheiten – sind nicht nur vom Erdbeben, sondern auch vom andauernden Krieg geschunden. Inwiefern hat der Krieg dazu beigetragen, dass die Menschen nun besonders hart vom Erdbeben betroffen sind?
In diesen Gebieten leben kurdische Alewiten, arabische Alewiten auf der türkischen Seite. Auf der syrischen Seite sind Kurden, aber auch arabische Sunniten, vor allem in der Provinz Idlib. Die Provinz Idlib wird von der Türkei besetzt, aber von radikalen Islamisten der Al-Quaida Gruppe verwaltet. Dorthin muss auch die Hilfe kommen, dafür muss die Türkei sorgen. Assad und Putin müssen Angriffe auf diese Gebiete beenden, damit die Menschen nach den Opfern suchen, die Verwundeten, die Verletzten versorgen können.
Die deutsche Bundesregierung hat jahrelang die Hilfe, humanitäre Hilfe, für die kurdisch verwalteten Gebiete in Nordsyrien blockiert, vor allem das Auswärtige Amt. Diese Politik muss beendet werden. Sie macht sich bemerkbar: Fehlende Infrastruktur, schlechte medizinische Versorgung führen dazu, dass die Opfer des Erdbebens gar nicht oder sehr wenig versorgt werden.
Welche Hilfe muss jetzt kommen?
Einige Vertreter der deutschen Bundesregierung sagen in ihren Interviews, dass Assad die Grenzübergänge öffnen muss, damit die humanitäre Hilfe ankommt. Ich habe das Gefühl, dass diese Politiker, die sowas sagen, keine Ahnung haben, unter welcher Kontrolle sich diese Grenzübergänge befinden. Wenn man die Karte Syriens anschaut, sieht man: Die ganze nördliche Grenze wird von der Türkei kontrolliert, zum Teil auch die nordwestliche. Seit 2011 kamen über diese Grenzübergänge zehntausende Dschihadisten, Islamisten aus der ganzen Welt, man hat über diese Grenze modernste Waffen nach Syrien geschickt. Jetzt muss Erdogan dafür sorgen, dass auch humanitäre Hilfe bei den Menschen über diese Grenze ankommt. Dafür braucht man keine Beschlüsse. Das liegt in der Hand der Türkei, die Türkei muss Hilfe zulassen.
Kamal Sido ist Nahostreferent bei der Gesellschaft für bedrohte Völker.