Im August 2013 steigen zwei Männer aus einem schwarzen VW Santana ohne Nummernschild. Sie befehlen Abduweli Ayup mitzukommen. Er wehrt sich nicht. Ayup weiß, dass sie gekommen sind, um ihn zu verhaften. Er weiß allerdings noch nicht, wie grausam ihre Verhörmethoden sein werden.
Von Leonore Winkler; Foto: Abduweli Ayup, Wikipedia
Wenn Ayup heute von seiner Gefangenschaft in den Umerziehungslagern im Westen Chinas erzählt, schweift sein Blick in die Ferne. Weit liegt die Zeit zurück, in der er in Ostturkestan, wie die Uiguren ihre Heimat trotz der chinesischen Umbenennung in Xinjiang nennen, um sein Leben bangen musste.
Heute lebt der Lehrer, Linguist, Poet und Aktivist in Norwegen. Es ist später Nachmittag, als Ayup in seine Laptopkamera winkt. Eine Tür knallt. Dann ist es still. Seine Frau gehe immer mit seinen zwei Töchtern raus, wenn er mit den Medien spreche, wird Ayup später erzählen. Sie solle all die furchtbaren Dinge nicht hören.
Ayup wächst mit Lehrbüchern voll chinesischer Propaganda und Ideologie auf. Die traditionsreiche Kultur der Uiguren, die er mit seinen fünf Geschwistern in geheimer Lektüre entdeckt, ist im Unterricht verboten.
Seine Begeisterung für die uigurische Kultur und Literatur begleitet ihn in sein Studium. Gleichzeitig wächst Ayups Empörung über die Unterdrückung seines Volkes. Er engagiert sich für die Uiguren, hinterfragt Entscheidungen und übt öffentlich Kritik. Sein Aktivismus ist der Regierung ein Dorn im Auge.
Ein Stipendium an der Universität Kansas führt Ayup in die USA. Doch nach blutigen Aufständen in seiner Heimat werden das Internet vor Ort eingeschränkt und das Mobilfunknetz gesperrt. Um Kontakt zu halten, erstellt der Poet einen Blog. Für sich und sein Volk. Viele fahren aus Ostturkestan
in chinesische Provinzen, weil nur dort seine Beiträge einzusehen sind. „Das sind über 3.000 Kilometer!“, ruft Ayup gerührt.
Nach seinem Masterabschluss in Linguistik kehrt Ayup mit einer Vision nach Ostturkestan zurück: Er will ideologiefreie Schulen errichten. Er weiß um die Risiken, die ihn erwarten. Sein Name ist eine Bedrohung für die chinesische Regierung: „Vielleicht werden sie mich verhaften. Vielleicht werde ich
sterben.“ Ayup schweigt lange. Seine Nichte schreibt ihm ähnliche Zeilen, als sie nach einem Auslandsaufenthalt nach China zurückkehrt. Wenig später ist sie tot. Das erste Mal, seit Ayup spricht, stolpert er über seine eigenen Worte. Er weint leise. Viele Freunde und Verwandte seien in Umerziehungslagern. Ihr Verbrechen: Schuld durch Assoziation mit ihm, dem Uiguren, dem Aktivisten, dem Kritiker.
Ayup selbst wird vor einer seiner Schulen verhaftet. Die Offiziere beschuldigen ihn, Terrorist und Separatist zu sein. Sie wollen ein Geständnis, um jeden Preis. Sie schlagen und foltern ihn. „Der Elektrostab hängt an der Wand“, sagt Ayup und zeigt in die rechte Ecke seines Raumes, die Hände zittern vor der Laptopkamera. „Ich kann ihn sehen. Es ist schrecklich, wenn sie ihn nutzen“, stottert er und schaut zu Boden. Der Poet spricht stets im Präsens. Seine Erzählungen sind lebhaft und nah. In einem Raum mit zwanzig Aufsehern und Insassen muss er sich ausziehen. Sie demütigen ihn, sie schlagen ihn, sie vergewaltigen ihn. Heute weiß Ayup, dass die sexuelle Gewalt systematisch eingesetzt wird:
“Wenn du deine Würde verloren hast, gehorchst du jedem Befehl.“
Ayup
Es folgen 15 Monate grausamer Lebensumstände, Folter und Krankheit: „Sie quälen dich mit Hoffnungslosigkeit und Nutzlosigkeit, bis du zusammenbrichst.“ Doch mit Geschick kann er die Aufseher überzeugen, den uigurischen Insassen Chinesisch beizubringen. Monatelang lehrt Ayup, sagt leise Gedichte auf, verfasst im Kopf drei Bücher – und bleibt so bei Verstand.
Zur gleichen Zeit fordern viele Menschen seine Freilassung. Unter ihnen ist Rushan Abbas, uigurisch amerikanische Aktivistin und Gründerin der Organisation Campaign for Uyghurs, die sich für die uigurischen Rechte einsetzt. Sie demonstriert für Ayups Freiheit. „Er schreibt unverblümt und mutig“, findet Abbas. Das sei wichtig, um die Uiguren anzuführen. Er helfe seinem Volk, sich auf das zu konzentrieren, was zähle. Ihre Stimme, sonst energisch und entschlossen, klingt weich, wenn sie von
ihm spricht.
Letztlich wird Ayup freigelassen. Doch die ständige Konfrontation mit der Polizei hat auch jenseits der Gefängnismauern kein Ende für ihn. Immer wieder wird er kontrolliert, verhört und gefoltert. Ayup flieht mit seiner Familie nach Norwegen. Hier fühlt er sich sicher. Doch der Uigure weiß um die Verantwortung, die er mit seinem Namen trägt. Er selbst ist nun frei, aber viele Millionen Uiguren sind es nicht. Die Erwartungen an ihn sind hoch. Ayup überlegt lange, ringt mit Worten. „Ich schreibe über Hoffnung und die Wichtigkeit von Widerstand“, sagt er. „Aber ich glaube meinen eigenen Worten nicht mehr.“ Und dennoch kämpft er weiter. Das wünscht er sich auch von Deutschland – dem Land, das in Ostturkestan den VW Santana bauen lässt, der ihn und viele andere Uiguren in die Tiefen ihrer Traumata steuert.