Jugendliche nutzen die Sozialen Medien vermehrt, um Politik zu gestalten: Sie stellen zum Beispiel Videos und Fotos ins Internet, um ihre Meinung auszudrücken und auf Unrecht aufmerksam zu machen. In Sekundenschnelle können sie so tausende von Menschen erreichen, Unterstützer*innen für eine Idee gewinnen. Die TikTokerin Feroza Aziz prangert in ihren Videos den Umgang Chinas mit Uigur*innen an. Getarnt ist ihre Botschaft als Schmink-Video, damit sie der chinesischen Zensur entgeht.
Von Caroline Siems, Referentin für digitale Kommunikation; Foto: © Screenshot: Feroza Aziz/ TikTok
Immer schneller, immer mehr Möglichkeiten, rund um die Uhr, jeden Tag – so sieht die Welt der Sozialen Medien für Jugendliche heutzutage aus. Es gibt die verschiedensten Plattformen im Internet: Facebook, um sich mit Freund*innen zu vernetzen; Twitter, um kurze Nachrichten und Ansichten kundzutun; Instagram, um Fotos zu teilen. Das kann gefährlich werden, aber auch sehr nützlich sein. Die Video-App TikTok (früher bekannt als musical.ly) erfreut sich derzeit bei Jugendlichen großer Beliebtheit – vor allem, um für die eigenen politischen und persönlichen Ideale einzustehen.
„Hey Leute, ich werde euch zeigen, wie ihr lange Wimpern bekommt“, erklärt die Influencerin Feroza Aziz in einem TikTok-Clip. Ein*e Influencer*in ist eine Person, die in sozialen Netzwerken besonders bekannt ist. Das Video der 17-Jährigen wurde millionenfach angeklickt. Aziz filmte sich selbst dabei, wie sie sich schminkt. Anfangs sieht das Ganze aus wie ein typisches Make-Up-Tutorial. Doch bereits nach wenigen Sekunden spricht die junge Influencerin die Unterdrückung der muslimischen Minderheit der Uigur*innen in Xinjiang an: „Jetzt nehmt ihr euer Handy und lest nach, was gerade in China passiert, wie sie Konzentrationslager bauen, in die sie unschuldige Muslime stecken.“
TikTok, in der Volksrepublik China bekannt als Douyin, ist eine App, die Lippensynchronisation von Musikvideos mit den Funktionen eines sozialen Netzwerks vereint. Sie ist die beliebteste App in China. Aber auch auf der ganzen Welt wurde sie bereits mehr als eine Milliarde Mal heruntergeladen. Die Hauptnutzer*innen sind zwischen 13 und 25 Jahre alt. Ein Algorithmus, dessen Logik bislang geheim gehalten wird, entscheidet, wer welche Videos sieht. Ein privates Profil anzulegen, bei dem der*die Nutzer*in entscheiden könnte, wer die eigenen Inhalte sieht, ist nicht möglich. Alle Videos sind also für alle Nutzer*innen sichtbar.
Aziz wusste, dass die chinesische Regierung die Video-App TikTok kontrolliert und zensiert. Deshalb versuchte sie, über Umwege auf die Menschenrechtsverletzungen in der Volksrepublik aufmerksam zu machen. Da TikTok ihren Account dennoch sperrte, entbrannte weltweit eine Diskussion über die Gefahren von Zensur im Zusammenhang mit Sozialen Medien – vor allem mit der Video-App TikTok, die von einem chinesischen Unternehmen gekauft wurde.
Werden Inhalte zensiert und Daten gespeichert?
In der jüngeren Vergangenheit ist die App TikTok oft im Zusammenhang mit dem noch amtierenden US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump genannt worden: Er hatte versucht, das soziale Netzwerk in den USA zu verbieten. Trump sieht in der App ein Sicherheitsrisiko, da chinesische Behörden US-amerikanische Benutzer*innendaten ausspähen könnten. Zwar hat ein Gericht das Verbot der Video-App gestoppt, dennoch bleibt die Kritik bestehen. Die indische Regierung hat die Nutzung des Video-Portals bereits verboten. Man habe Angst um die Daten indischer Bürger*innen und sieht die Souveränität Indiens in Gefahr.
Außerdem steht der Vorwurf der Zensur im Raum: TikTok zensiere und entferne Inhalte, die für das Unternehmen zu politisch wirken oder weil sie gegen das Interesse der chinesischen Regierung stehen könnten. So werden beispielsweise Videoclips zu den Protesten in Hongkong oder zu der Falun-Gong-Bewegung zensiert. Sie sind in China nicht mehr verfügbar. Weltweit werden Inhalte zu Homosexualität von TikTok gesperrt – mit der Begründung, sie würden gegen das Jugendschutzgesetz verstoßen.
Jugendlicher Online-Aktivismus findet einen Weg
Feroza Aziz hat inzwischen wieder Zugang zu ihrem Account. Angeblich hat das chinesische Unternehmen ihre Inhalte aus Versehen entfernt. Die Sperrung ihres Profils habe mit älteren Inhalten zu tun gehabt. Aziz hatte zuvor des Öfteren satirische und kritische Inhalte veröffentlicht. Um die Zensur zu umgehen, finden jugendliche Nutzer*innen immer kreativere Wege, politische Inhalte zu teilen.
Unter dem Hashtag #ForClimate gibt es etwa 400 Millionen Clips, die sich mit dem Klimawandel auseinandersetzen. Vorreiterin dieser Bewegung ist die junge Australierin Tara Bellerose. Ihre täglich veröffentlichten Fotos und Videos zu Klima-Fakten erhielten bislang 11 Millionen Likes, also Reaktionen von anderen Nutzer*innen durch Klicks, die Zustimmung ausdrücken.
Die Indigene Eshia Anderson macht mithilfe der Video-App auf den Rassismus gegen Aboriginal People aufmerksam. Sie ist eine von vielen Indigenen Australiens, die TikTok für politische Statements verwenden: mit den typischen Möglichkeiten der App wie Musik, Textüberlagerungen und einer Person, die innerhalb eines Clips verschiedene Rollen einnehmen kann, tauschen sich die jungen Aboriginal People über Stereotype, Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen aus. Anderson kritisiert zum Beispiel in ihren Videos die Nationalhymne, indem sie diese nachsingt und mit anderen Texten überschreibt. Außerdem berichtet die 20-Jährige von dem Rassismus, der ihr täglich in der Schule widerfährt. Sie will vor allem andere indigene Jugendliche und Kinder erreichen, um zu zeigen, dass sie nicht alleine sind. Diese Bewegung weitet sich aus: Inzwischen nutzen viele Indigene TikTok, um bedeutende historische Ereignisse aus einer indigene Sicht neu zu erzählen.
Auch in den USA versuchen Native Americans mithilfe der TikTok-App, auf ihre oft problematische Situation und Lebensumstände aufmerksam zu machen. Der Jugendliche Jojo Jackson ist Navajo. In seinen Videos thematisiert er die gesundheitlichen Missstände in den indigenen Reservaten. Bereits mehr als 1.200 Navajos hätten sich mit Covid-19 infiziert, 50 davon seien gestorben (Stand Nov. 2020).
Die Hahstags #native oder #indigenous sind inzwischen zu einem großen Austausch-Netzwerk herangewachsen. Jugendliche tauschen sich dort über ihre Geschichte und ihre Kultur aus. Apropos Kultur: Der Hahstag #teachyourindigenouslanguage (dt.: unterrichte deine indigene Sprache) soll dazu beitragen, dass indigene Jugendliche wieder vermehrt ihre indigene Sprache lernen. Er wurde von der 20-jährigen Native American Patricia Christensen ins Leben gerufen.
Das Besondere an dem Online-Aktivismus auf TikTok ist, dass er sehr persönlich ist. Junge Menschen berichten von ihren eigenen Erfahrungen und ihren politischen Ansichten. Die Person, die die Videos ins Internet stellt, steht im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit – und zwar von potentiell sehr vielen Menschen. Das kann eine große Wirkung entfalten – gleichzeitig macht sich die Einzelperson aber auch angreifbar. Gerade für Kinder und Jugendliche kann das zu einer großen Gefahr werden.
Der Artikel erschien in der Zeitschrift “Für Vielfalt” Ausgabe 06/2020