Die Tage werden kürzer und kälter. Es ist die Jahreszeit, in der wir mehr Zeit drinnen verbringen. Aber was ist, wenn es drinnen genauso kalt ist wie draußen? Und was ist, wenn die finanzielle Unterstützung für Heizung fehlt? Die Buchautorin Kerstin Gröper hat diese Sorgen und Ängste in einer Kurzgeschichte festgehalten.
von Kerstin Gröper; Foto: pixabay.com
Majazu drückte ihre Nase gegen die eisige Fensterscheibe und blickte in den Schneesturm hinaus. Ihr Name bedeutete Regen in der Sprache der Lakota. Aber Regen gab es schon länger nicht mehr. Der Winter hatte das Land der Lakota bereits fest im Griff. Eisblumen hatten sich gebildet und das Mädchen kratzte ungeduldig die Scheibe frei, um überhaupt etwas sehen zu können. Im Trailer war es bitterkalt und so hatte sie sich in eine Decke gehüllt, um sich etwas zu wärmen. Der Ofen war ausgegangen und an den Wänden im Inneren bildeten sich Eiskristalle. Vor ihrer Nase sammelte sich Raureif, der an der Fensterscheibe sofort gefror und das kleine Guckloch, das sie sich freikratzte, sofort wieder schloss.
Heute! Heute würde die Mama endlich heimkehren! Majazu zappelte ungeduldig und drehte sich zur Großmutter um, die ebenfalls in eine Decke gehüllt im Sessel saß. Sie hielt den kleinen Bruder im Schoß und las ihm etwas vor. „Unci! Wann kommt Mama denn?“, fragte sie voller Sehnsucht. Die Großmutter sah auf und schaute sie über den Rand ihrer Brille hinweg an. „Bald! Es hat geschneit, da kommt der Wagen nicht so schnell durch.“ Wieder rubbelte das Mädchen die Scheibe klar und versuchte, einen Blick nach draußen zu erhaschen. Die Großmutter lachte leise. „Setz dich zu uns. Du kannst doch das Auto hören, wenn es kommt!“
„Stimmt!“ Majazu wandte sich vom Fenster ab und setzte sich auf einen weiteren Sessel. „Warum war Mama so lange eingesperrt?“
Die Großmutter seufzte. „Weil sie demonstriert hat!“, erklärte sie geduldig. Majazu wackelte mit den Füßen und schnaubte geringschätzig. „Unci! In Standing Rock haben ganz viele demonstriert. Keiner will schmutziges Öl in seinem Trinkwasser! Warum also hat die Polizei unsere Mama mitgenommen?“ Majazu rieb sich die Nase und dachte kurz an diesen Augenblick zurück, als ihre Mutter vor ihren Augen brutal zu Boden gedrückt und abgeführt worden war. Die Polizisten hatten dabei gebrüllt und geschlagen und keine Rücksicht darauf genommen, dass Majazu und ihr kleiner Bruder vor Entsetzten geschrien hatten. Eine Dame vom Jugendamt hatte die beiden aus dem Protestcamp geholt und bei der Großmutter abgegeben. Das war im Sommer gewesen. Bis zu diesem Vorfall war es im Oceti Sakowin Camp schön gewesen. Es hatte Zeremonien geben, Spiel, Gebete und Abenteuer pur. Majazu hatte mit den vielen anderen Kindern gespielt und am Unterricht teilgenommen, der dort von Lehrern abgehalten wurde. Sie hatte riesige Fortschritte im Lakota gemacht und sich gewundert, dass ihre Großmutter diese alte Sprache sprechen konnte. Sie hatte die Oma darum gebeten, öfter mit ihr in Lakota zu sprechen, aber der alten Frau fiel es sichtlich schwer. „Als Kind bin ich immer geschlagen worden, wenn ich Lakota gesprochen habe“, hatte sie sich entschuldigt. Und Majazu hatte empört die Hände in die Hüften gestemmt und sie streng angesehen. „Aber Unci! Niemand schimpft dich mehr! Es ist doch jetzt ein Schulfach!“ Doch dann war die Lage eskaliert und viele Aktivisten waren verhaftet worden. Grundlos. Einfach so. Auch ihre Mama.
Inzwischen war Winter und die Kinder vermissten die Mutter so sehr. Die Lage der Familie hatte sich zugespitzt, denn die Großmutter hatte kein Geld und der Staat hatte unter Präsident Trump begonnen, alle Leistungen zu kürzen. Das einzige Einkommen war über die Mutter erzielt worden, doch durch die lange Haft fehlte der Familie nun das Geld. Im Herbst war es noch irgendwie gegangen, denn die Großmutter hatte einen Garten, in dem sie Gemüse züchtete. In der Umgebung standen Obstbäume und ein Nachbar hatte Fleisch vorbeigebracht. Aber nun war der Winter hereingebrochen und das Gas für die Heizung war aus. Die Großmutter hackte Holz für den zusätzlichen Ofen, doch Holz war rar und so machten sie es immer erst am Abend an. „Solange wir uns bewegen, brauchen wir kein Feuer“, hatte sie erklärt.
Majazu war da anderer Meinung. Sie war froh, wenn morgens der Schulbus kam und sie in die warme Schule fahren konnte. Wie sollte das weitergehen? Der Winter hatte gerade erst angefangen! Zitternd wickelte sie die Decke enger um ihren Körper. Selbst mit Decke fror sie nun. „Können wir endlich Feuer machen?“, fragte sie quengelnd.
„Gleich!“, wehrte die Großmutter ab. „Ich lese noch das Buch fertig, dann muss ich ohnehin kochen.“ Sie ignorierte den weinerlichen Blick ihrer Enkeltochter.
Majazu lauschte der weichen Stimme ihrer Großmutter, bis ein entferntes Motorgeräusch sie aufhorchen ließ. „Sie kommt!“, rief sie voll freudiger Erwartung. Schon stand sie an der Tür und riss sie auf. Eine Welle kalter Luft schlug ihr entgegen, sodass sie die Tür wieder schloss und durch eine Scheibe an der Tür hinauslugte. „Ich sehe die Scheinwerfer!“
Kurze Zeit später knirschten die Räder, als das Auto vor der Tür zum Stehen kam. Türen wurden geöffnet und wieder zu gedroschen, dann stand die Mutter endlich vor der Tür. „Ina!“, rief Majazu überglücklich und umarmte sie stürmisch. Auch der kleine Bruder rannte herbei und fiel seiner Mutter um den Hals, sodass sie fast das Gleichgewicht verlor. Sie wirkte blass und müde. Ein Mann drängte sich ebenfalls herein und schloss die Tür hinter sich. Er trug eine Jeans und einen warmen Parka. Seine langen Haare lugten unter einer warmen Mütze hervor. „Hau!“, grüßte er höflich und nickte der Großmutter im Sessel zu. „James, le miye!“, stellte er sich kurz vor. „Yellow Bull tiospaye“, aus der Familie Yellow Bull. Er schlug frierend die Hände zusammen und blickte sich kurz um. „Kalt hier!“, bemerkte er überflüssigerweise.
Majazu nickte traurig. „Wir haben kein Geld für das Gas!“, erklärte sie die Situation.
Die Mutter stellte eine kleine Tasche ab und fuhr sich über die Haare. „Ich war so lange weg“, murmelte sie. „Ich habe keinen Job mehr, nachdem die mich so lange eingesperrt haben …“
James nickte wütend. „Diese Scheißkerle! So wollen sie uns weich kriegen. Verhaften Unschuldige, die dann keine Arbeit mehr haben! Oder sie nehmen ihnen unter irgendeinem Vorwand die Kinder weg.“
Die Mutter schrak sichtlich zusammen. „Zum Glück habe ich noch meine Mutter. Sonst hätten sie mir ebenfalls die Kinder weggenommen.“ „Und für was?“ fauchte der Mann ungehalten. „Sie haben dir nichts nachweisen können! Eigentlich müssten sie dir Schadensersatz zahlen!“ Die Frau zuckte unglücklich die Schultern. „Hat doch keinen Sinn. Als Indigener bekommst du nie Recht. Ich muss sehen, ob ich meine Arbeit wiederbekomme. Wir brauchen Gas und Vorräte.“ Ihre Stimme war alt und gebrochen. All ihr Widerstand hatte nichts genützt. Die Pipeline war gebaut worden, das Protestcamp geräumt, und alles, was blieb, waren Schulden und Hoffnungslosigkeit.
James steckte die Hände in die Taschen seiner Jacke und zog die Schultern hoch. „Brauchst du noch was?“, erkundigte er sich.
Die Frau seufzte tief. „Danke, dass du mich abgeholt hast.“
„Kein Problem!“
„Könntest du mir in den nächsten Tagen ein paar Lebensmittel bringen?“
Der Mann nickte. „Mach ich! Ich hole dir was von der Lebensmittelstelle. Ich sag denen, dass du Hilfe brauchst!“
Die Mutter nickte dankbar. Dann fiel ihr die Kälte im Trailer auf. „Kannst du auch was wegen der Heizung unternehmen?“
Der Mann lächelte breit. „Aber klar! Ich sage dem Winterprojekt Bescheid! Die liefern dir Gas, mit dem du über den Winter kommst.“
„Kostenlos?“, wunderte sich die Frau.
„Ja, kostenlos. Die sammeln Spenden und liefern an bedürftige Haushalte. Water-Protectors verdienen jede Unterstützung, die sie kriegen können. Findest du nicht?“
„Doch!“, stimmte die Frau mit einem Lächeln zu. „Zumindest, bis ich wieder für uns selbst sorgen kann!“
James lächelte ihr ermutigend zu. „Du bekommst deinen Job bestimmt zurück! Du wirst sehen! Wir halten hier zusammen. Die kriegen uns nicht klein.“
Die Mutter nickte erleichtert. „Das wäre schön“, flüsterte sie leise. Sie nahm den Sohn auf den Arm und drückte ihn ganz fest an sich, dann nickte sie ihrer Tochter zu. „Bald wird es schön warm bei uns!“
Majazu war etwas misstrauisch und wandte sich fragend an den Mann. „Wann kommt denn der Tankwagen mit dem Gas?“
„Morgen!“, versicherte James mit einem Zwinkern. „Morgen!“
„Und woher willst du das so genau wissen?“
„Na, weil ich ihn fahre! Ich komme als allererstes bei euch vorbei!“ Sein Lachen dröhnte durch den Raum und wärmte die Herzen der Menschen. Es würde ein extrem langer Winter werden, doch diese Familie würde nicht unter der unbarmherzigen Kälte in Süd Dakota leiden.
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