Marco Temporal Não! – Gesetzesentwurf bedroht die Rechte der indigenen Völker Brasiliens

Der linksgerichtete Präsident Lula hatte während seines Wahlkampfes eigentlich versprochen, die Rechte der indigenen Bevölkerung Brasiliens zu stärken. Vor allem sollte gegen die Landnahme vorgegangen werden: indigene Territorien sollten geschützt und ihre kulturelle Identität gewahrt und gestärkt werden.

Von Maya Erb; Foto: Hellen Loures / Cimi | Flickr

Beim diesjährigen Protestcamp der indigenen Völker Brasiliens, „Terra Livre“, im April diesen Jahres verkündete Präsident Lula die amtliche Anerkennung von sechs indigenen Gebieten. Der von ihm vorgeschlagene Gesetzesentwurf PL 490/2007, auch bekannt als „Marco Temporal“ besagt, dass indigene Völker nur Anspruch auf die Demarkierung ihrer Gebiete haben, wenn sich diese am 5. Oktober 1988 (dem Tag der Verkündung der brasilianischen Verfassung) bereits in ihrem Besitz befanden. Dieser Gesetzesentwurf, der am 30. Mai von der brasilianischen Abgeordnetenkammer angenommen wurde und dem nun die Abstimmung durch den brasilianischen Senat bevorsteht, droht die Rechte der indigenen Völker massiv einzuschränken. Auch jegliches Bestreben des Präsidenten, eine Null-Abholzungs-Politik zu verfolgen, werden dadurch zunichte gemacht, und wären somit ein herber Schlag gegen die Umwelt. DDadurch, dass der Gesetzentwurf mit 283 zu 155 Stimmen angenommen wurde, erhielt er für die erneute Abstimmung im Senat eine neue Nummer, nämlich PL 2903.

Wieso ist er von Bedeutung?

Brasilien ist ein Land mit einer langen Geschichte an Konflikten: Bezüglich der Landnahme von Seiten der Regierung, aber auch durch ausländische Unternehmen und illegale Rodungen. Dies begann, wie überall auf dem Kontinent, mit der Kolonisierung der Amerikas und ist seither geprägt von Konflikten, vor allem im Bezug auf ihre kollektiven Rechte und die illegale Landnahme seitens der Regierung, inländischer und ausländischer Unternehmen. Indigene weltweit müssen kämpfen, um ihre Rechte als souveräne Völker durchzusetzen. Sie sind bedroht wie kaum Andere. Für viele indigene Aktivist*innen in Lateinamerika endet dieser Kampf mit dem Tod.

Vor allem in der Amtszeit Jair Bolsonaros nahm die Gewalt gegenüber Indigenen zu, gepaart mit einer nie zuvor dagewesenen Zerstörung des Amazonas Urwaldes. Bolsonaros neoliberale Politik war geprägt von Maßnahmen und eines politischen Diskurses, welche die Rechte und den Schutz der indigenen Völker verschlechterten. Einige indigene Aktivist*innen wurden während dieser Zeit ermordet, die Situation bleibt weiterhin gefährlich.

Die Anerkennung von Schutzgebieten sowie indigener Territorien wurden konsequent blockiert, Umweltschutz- und indigene Organisationen systematisch geschwächt. Die Demonstrationen und Proteste gegen seine Regierung werden seit Jahren kriminalisiert und erreichten während der Amtszeit Bolsonaros ein noch nie da gewesenes Tief. Die Abholzung des Amazonas Urwaldes erreichte schon 2019, im ersten Amtsjahr des ehemaligen Präsidenten Bolsonaro, die höchste Entwaldungsrate der letzten zehn Jahre.

Die Bedrohung durch das PL 490/2007

Das frühe PL 490/2007, heute PL 2903, auch „Marco Temporal“ genannt (auf deutsch „Stichtag“ oder „zeitlicher Rahmen“) ist ein Gesetzesentwurf, welcher die indigenen Landrechte erheblich beeinträchtigen könnte. Seit dem Jahr 2007 versuchen brasilianische Abgeordnete und Senator*innen, welche Interessen des Agrobusiness vertreten, diesen Gesetzentwurf durchzubringen, um die Rechte von Indigenen auf ihre ursprünglichen Territorien, wie es in der brasilianischen Verfassung im Artikel 231 steht, zu schwächen.

Der „Marco Temporal“ legt das Jahr 1988 offiziell als „Stichtag“ fest, nach dem die indigenen Landansprüche legitimiert werden. In der Verfassung von 1988 wird den indigenen Völkern und Gemeinschaften zwar das Recht auf ihre traditionellen Territorien zugesprochen, allerdings stellt der Gesetzentwurf „Marco Temporal“ seit 2007 dieses Recht in Frage und kann dazu führen, dass Indigene ihre Ansprüche verlieren, wenn sie nicht nachweisen können, dass sie das Land schon vor 1988 besetzt hatten.

Wieso bedroht das Gesetz die Rechte der indigenen Gemeinschaften Brasiliens?

Der „Marco Temporal“ ist eine Bedrohung für die Rechte der indigenen Völker, aber auch für die Umwelt, da viele dieser Gemeinschaften aufgrund von Gewalt, Vertreibung, legalem und illegalem Landraub gezwungen waren, ihre traditionellen Territorien vor 1988 zu verlassen. Dieser wichtige Faktor wird allerdings bei der Legitimierung der Ansprüche dieser Völker nicht berücksichtigt. Kritiker*innen befürchten, dass der „Marco Temporal“ als Legitimation dienen soll, um bereits anerkannte indigene Territorien abzuerkennen, sie zu schwächen und für den Bergbau, Agro- und Infrastrukturprojekte freizugeben, sowie die (noch) illegale Landnahme im Kongress zu legalisieren . Befürworter*innen, welche aus der mächtigen Agrarlobby kommen, argumentieren mit besseren Rechtsbedingungen für Landbesitzer*innen, da es diese vor Enteignungen zugunsten der indigenen Bevölkerung schützen würde.

Obwohl der linksgerichtete Präsident Luiz Inácio Lula da Silva versprach, die Abholzung bis 2030 auf null zu senken, indem auch indigene Schutzgebiete auf diesen Territorien errichtet werden sollen, sieht die Realität leider anders aus. Dem brasilianischen Präsidenten fehlt die Mehrheit in der brasilianischen Abgeordnetenkammer und Senat. Rechte und konservative Gruppierungen, welche auch Anhänger*innen des Neoliberalisten Bolsonaros sind, bilden die Mehrheit im Parlament und versuchen die Klimapolitik der linken Regierung des Landes zu stoppen. Am 24. Mai entschied sich der Kongress für die Reorganisation von Regierungsministerien. Das Ministerium für indigene Angelegenheiten soll hierdurch nicht mehr für die Anerkennung indigener Gebiete zuständig sein, sondern die Legislative – in der Vertreter*innen der Agrarlobby und Jair Bolsonaros die Mehrheit bilden.

Das PL 2903 wurde mehrfach vom obersten brasilianischen Gerichtshof geprüft. Der oberste brasilianische Gerichtshof entschied am 07.06., ob das PL 2903 archiviert oder beim Senat abgestimmt werden darf – Zwei Minister des Gerichtshofes stimmten dafür, einer dagegen.. Die Sitzung wurde daraufhin unterbrochen und die Entscheidung auf ein unbekanntes Datum verlegt. Sie könnte in ein paar Monaten erfolgen.

Was hat das mit uns zu tun?

Anfang diesen Jahres reiste der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz in das südamerikanische Land, um die Beziehung zwischen den beiden Ländern zu stärken. Die Staatsoberhäupter tauschten sich über den Erhalt und Schutz des Amazonas-Regenwaldes aus, welchen sich Lula auf die Fahne geschrieben hatte. Dafür wollte er vor allem die Abholzung des Regenwaldes bremsen, wofür er Zuspruch vom deutschen Bundeskanzler bekam. Allerdings äußerten beide auch ihr Bestreben nach einem zügigen Abschluss des Mercosur-Abkommens, da jegliche Zusammenarbeit zwischen den beiden Staaten während der Amtszeit Jair Bolsonaros beigelegt wurde.

Beim Mercosur-Abkommen handelt es sich um eines der größten Freihandelsabkommen der Welt. Hierbei geht es darum, ohne viele Zölle Handel betreiben zu können. Brasilien verfügt über Erdmetalle, wie Eisenerz und Erdöl, welche immer seltener werden, allerdings in vielen Bereichen bei der Produktion Anwendung finden. Außerdem handelt es sich um einen der wichtigsten Lebensmittelexporteure weltweit, was den Export von Fleisch und Soja betrifft. Das Abkommen soll uns günstige und schnelle Waren aus Brasilien garantieren. Kritiker*innen befürchten, dass das Mercosur-Abkommen zu mehr Raubbau im wertvollen Amazonasgebiet führen und die Rechte der indigenen Bevölkerung schwächen wird. Der „Marco Temporal“ könnte diese Situation zusätzlich belasten, indem indigene Völker ihre Landrechte einfacher abgesprochen und diese traditionellen Territorien für die Wirtschaft auch auf legalem Weg freigegeben werden.

Es bleibt kritisch zu betrachten, wie die Situation sich entwickelt. Es ist zu hinterfragen, ob und inwiefern ein anhaltender Schutz des Amazonas-Regenwaldes und indigener Gemeinschaften mit dem Mercosur-Abkommen und dem „Marco Temporal“ vereinbar ist.

Wir von der Gesellschaft für bedrohte Völker fordern:

  • dass die Rechte der indigenen Völker und der Natur priorisiert werden
  • die deutsche Bundesregierung ihr Versprechen der Unterstützung zum Erhalt des Amazonas-Gebiets einhält.
  • Die Untergrabung der indigenen Rechte nicht weiter ignoriert werden.
  • Es braucht internationalen Druck, den „Marco Temporal“ und im besten Fall die brasilianische Verfassung zu überarbeiten, um die Rechte der indigenen Völker unanfechtbar zu etablieren.
  • Zusätzlich muss die Bundesregierung das Mercosur-Abkommen zugunsten der Natur stoppen!

Autorinnenportrait

Maya Erb studiert Politikwissenschaften und Spanisch an der Universität Kassel und absolviert derzeit ein Praktikum im Fachreferat für indigene Völker. Sie arbeitet insbesondere zu der Situation indigener Völker in Lateinamerika. In ihrem Studium konzentriert sie sich auf postkoloniale und dekoloniale Studien, vor allem im Bezug auf Lateinamerika.

An der GfbV findet sie spannend, dass ein besonderer Blickpunkt bezüglich der Zusammenarbeit und Unterstützung marginalisierter Gruppen überall auf der Welt vermittelt wird. Auch wird die Arbeit in einer NGO aufgezeigt und vermittelt.

Die Situation der indigenen Völker Lateinamerikas liegt ihr besonders am Herzen, da sie als Mensch mit ecuadorianischen Wurzeln schon früh mit den Problemen und der Ausgrenzung konfrontiert wurde, mit welchen indigenen Menschen begegnet wird.

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