Späte Anerkennung für ostpreußische Wolfskinder

Auf sich allein gestellte Kinder kämpften in Ostpreußen nach dem Zweiten Weltkrieg um ihr Überleben. Das Schicksal der sogenannten Wolfskinder, meist von Zwangsarbeit, Hunger und Identitätsverlust geprägt, ging in der öffentlichen Wahrnehmung lange Zeit unter. Eine Kampagne der GfbV trug dazu bei, dies zu ändern. Ein Rückblick.

Von Jasna Causevic; Foto: Michaela Böttcher/GfbV

Wolfskinder: eine Generation von Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg, die immer übergangen worden ist und bis ins hohe Alter um Anerkennung kämpfen musste. Doch der Einsatz der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV) für die ostpreußischen Wolfskinder war letztlich von Erfolg gekrönt. Die deutsche Bundesregierung hat das besondere Kriegsfolgenschicksal der Kinder als entschädigungswürdig anerkannt. Dieses Ergebnis war ein Meilenstein der Menschenrechtsarbeit der GfbV.

Kurz vor der Sommerpause 2017 war im Bundesinnenministerium der ersehnte Beschluss gefasst worden, dass ostpreußische Wolfskinder und Kinderhausinsassen nach mehr als 70 Jahren eine Entschädigung beantragen konnten. Alle, die nach 1945 für eine ausländische Macht Arbeit unter Zwang geleistet hatten, sollten symbolisch 2.500 Euro erhalten, hieß es in einer offiziellen Mitteilung. Auf dieses Ziel hatte die Gesellschaft für bedrohte Völker gemeinsam mit Wolfskindern aus Deutschland und Litauen sowie Prof. Dr. Wolfgang Freiherr von Stetten, Dr. Christopher Spatz und Prof. Dr. Rainer Schulze hingearbeitet. Den Auftakt für die Kampagne bildete der Besuch einer Wolfskinder-Delegation in Göttingen, Hann. Münden und Duderstadt im Jahr 2011.

Einsatz für eine Entschädigung

Eine medienwirksame Veranstaltung organisierte die GfbV beispielsweise am 25. März 2017 auf der Leipziger Buchmesse. Dort gelang es, ein großes Publikum anzusprechen und für das Anliegen zu gewinnen. Die Zeitzeug*innen Ursula Dorn, Bruno Roepschläger sowie Luise Kazukauskiene, Vorsitzende des Wolfskinder-Vereins „Edelweiß“ in Litauen, berichteten von ihrem jeweiligen Schicksal. Unterstützt wurden sie dabei von den Historikern Dr. ChristopherSpatz und Prof. Rainer Schulze. Auch die 104-seitige Publikation Deutschlands vergessene Wolfskinder brauchen unsere Hilfe! stellte die GfbV in Leipzig der Öffentlichkeit vor. Mit dieser Broschüre trat sie anschließendan Organisationen, Stiftungen, Kirchen, Politiker*innen und andere Personen des öffentlichen Lebens heran und bat sie, die Forderungen für die Wolfskinder zu unterstützen.

Außerdem richtete die GfbV einen Appell an die Bundesregierung, der von Tilman Zülch (GfbV Gründer), Prof. Wolfgang Freiherr von Stetten (Honorarkonsul der Republik Litauen), Martin Walser (Schriftsteller), Romani Rose (Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma) und vielen weiteren namhaften Persönlichkeiten mitunterzeichnet wurde. Auch der ehemalige Bundespräsident Christian Wulff trug das Anliegen mit.

Am 20. Juni 2017 erhöhte die GfbV den öffentlichen Druck auf die Entscheidungsträger*innen. Am Weltflüchtlingstag organisierte sie eine Demonstration vor dem Deutschen Historischen Museum in Berlin und forderte die deutsche Bundesregierung auf, den Wolfskindern unbürokratisch und unverzüglich eine Entschädigungszahlung zu gewähren. Die Aktion wurde vom damaligen Bundesinnenminister Thomas de Maizière sowie dem Beauftragten für Aussiedlerfragen und nationale Minderheiten, Hartmut Koschyk, wahrgenommen. Andere Politiker*innen und Unterstützer*innen der Wolfskinder ermutigten die GfbV außerdem zu weiterem Einsatz.

Am 12. Juli 2017 übergab die GfbV eine wissenschaftliche Stellungnahme des Historikers Dr. Christopher Spatz zur geleisteten Zwangsarbeit von ostpreußischen Wolfskindern und Kinderhausinsassen an Hartmut Koschyk
und die Mitglieder des im Bundesinnenministerium angesiedelten Beirats zur Anerkennungsleistung an ehemalige deutsche Zwangsarbeiterinnen. Eine Woche später entschied der Beirat, dass das Schicksal der ostpreußischen Kinder ein „das grundsätzlich entschädigungslos hinzunehmende allgemeine Kriegsfolgenschicksal übersteigendes Leid“ gewesen sei. Der Beirat ermutigte alle Betroffenen ausdrücklich, beim Bundesverwaltungsamt in Hamm einen Antrag nach der ADZ-Richtlinie (Richtlinie über die bereits im Sommer 2016 verabschiedete Anerkennungsleistung an ehemalige deutsche Zwangsarbeiterinnen) zu stellen.

Das »Wolfskinder-Denkmal« in Mikytai (dt. Mikieten), Memelland, Litauen. Foto: Vilensija, Wikipedia

Wettlauf mit der Zeit

Nun galt es, die Anspruchsberechtigten schnell über die veränderte Sachlage in Kenntnis zu setzen. Die für die Anträge gesetzte Frist war mit dem 31. Dezember 2017 knapp bemessen. Deutsche und litauische Medien berichteten. Die GfbV nahm Kontakt zur deutschen Botschaft in Litauen und zum deutschen Konsulat in Königsberg/Kaliningrad auf. Da alle Anspruchsberechtigten hochbetagt waren und teilweise mit Sprach-, Lese- und Schreibbarrieren zu kämpfen hatten, erstellte die GfbV für sie eine Leitlinie mit Hinweisen für die Antragstellung und half teilweise auch beim Ausfüllen der Anträge.

Parallel dazu erstellte die GfbV ein auf die ostpreußischen Wolfskinder und Kinderhausinsassen zugeschnittenes Merkblatt. Dieses Merkblatt überreichte sie dem Bundesverwaltungsamt in Hamm, um die zuständigen Sachbearbeiter*innen für die besonderen Umstände zu sensibilisieren, unter denen die ostpreußischen Kinder Zwangsarbeit geleistet hatten.

Die GfbV weiß infolge ihrer Betreuungsarbeit von einer dreistelligen Zahl an Wolfskindern, die einen Antrag gestellt haben. Der Großteil von ihnen lebt heute in der Bundesrepublik. Möglicherweise haben noch weitere Wolfskinder einen Antrag gestellt. Dies bleibt unklar, da das Bundesverwaltungsamt die Anträge nur nach Herkunftsgebieten, nicht nach Schicksalsgruppen aufschlüsselt.

Ende Mai 2020 waren von den insgesamt fast 47.000 eingegangenen Anträgen (anspruchsberechtigt waren auch andere Schicksalsgruppen wie die der Deutschen aus Russland) 98,5 Prozent abschließend bearbeitet. Fast alle von der GfbV und deren Partner*innen betreuten Wolfskinder und Kinderhausinsassen haben inzwischen einen Anerkennungsbescheid erhalten. Einige wenige Widerspruchsverfahren stehen noch zur Bearbeitung aus. Diesbezüglich erkundigt sich die GfbV regelmäßig beim Bundesverwaltungsamt nach den Verfahrensständen. Von den letzten 37 lebenden „Edelweiß“-Wolfskindern in Litauen haben 28 eine Entschädigung erhalten. Den anderen neun gilt im Zusammenwirken mit Prof. Wolfgang von Stetten die besondere Aufmerksamkeit der GfbV, damit auch ihnen am Ende ihres Weges Gerechtigkeit widerfährt.

Am Ende siegt die Gerechtigkeit

Mit ihrer Kampagne ist es der GfbV gelungen, das Schicksal der Wolfskinder über Deutschland hinaus bekanntzumachen. Ihr Einsatz hatte einen Bericht von National Geographic in den USA zur Folge und weckte in mehreren europäischen Ländern das Interesse von Filmproduzent*innen. Die deutsche Bundesregierung hat sich endlich zu ihrer historisch-moralischen Verantwortung gegenüber den lange vergessenen ostpreußischen Kriegsopfern bekannt. Obgleich eine Entschädigung der Betroffenen an die Frage nach individuell geleisteter Zwangsarbeit gebunden wurde, zieht die GfbV eine positive Bilanz. Für die Betroffenen war die Entscheidung ein wichtiges Zeichen. Bruno Roepschläger erzählte im Juni 2020 im Interview mit Dr. Christopher Spatz, was diese späte Anerkennung für ihn als Wolfskind heute bedeutet.


Dieser Artikel erschien in der Zeitschrift Für Vielfalt, Ausgabe 319.

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