Der Wächter des Sees: Sergej Kechimov

Sergej Kechimov ist Schamane. Es ist seine Aufgabe, auf den heiligen See Imlor aufzupassen, ihn zu schützen und ihn sauber zu halten. Doch der russische Ölkonzern Surgutneftegas wittert ein Milliardengeschäft mit den eine Million Tonnen Öl unter dem See. Schon heute verdrängt die Ölförderung die lokale Bevölkerung in der Umgebung. Doch Sergej Kechimov bleibt und kann sich bisher den Versuchen, ihn zu verdrängen, widersetzen. Nun wurde er zu sechs Monaten Freiheitsentzug verurteilt.

Von Regina Sonk; Foto: ©Denis Sinyakov / Greenpeace

Sergej Kechimov stochert in einer Pfütze pechschwarzer Flüssigkeit. Die gibt es hier überall. Ein Team der internationalen Umweltorganisation Greenpeace ist zu Besuch. Gemeinsam wollen sie die Auswirkungen der Ölförderung um den Imlor-See dokumentieren. Per Videos halten sie fest, wo Rohöl in die Umwelt gelangt ist. Es ist 2015. Erst seit kurzem sind Ölbohrungen in diesem Gebiet erlaubt. Zwei Jahre später wird die erste Ölpipeline brechen, kurz darauf mehrere weitere.

Das ausgelaufene Öl überflutete das Flussufer, wo Rückstände noch immer sichtbar sind. Sergej Kechimov und seine Frau sind die einzigen Mensch, der noch in direkter Nähe des Imlors ausharrt. Seine Familie hat seit Generationen hier gelebt. Sie sind seit jeher Schamanen und bewachen den See, der den Angehörigen der indigenen Chanten heilig ist. Wie niemand sonst kennt Kechimov all‘ die Mythen und die Geschichten des Gewässers. Russisch spricht er kaum, sondern die Sprache seines indigenen Volks.

Etwa 4.000 Chant*innen leben noch in der Umgebung. Sie betreiben Rentier-Zucht, jagen und fischen. Das ist ihre Lebensgrundlage. Die Chanten glauben, dass steinerne Menschen auf dem Grund des Sees leben und die Götter durch ihn auf die Erde steigen. Den Imlor und den nicht weit entfernten See Numto halten sie für Fußabdrücke ihres großen Gottes Num.

Der Imlor befindet sich im westsibirischen autonomen Bezirk Chanty-Mansijsk, nahe der 300.000-Einwohner*innen-Stadt Surgut. Der russische Ölkonzern Surgutneftegas sieht in dem See kein Heiligtum, sondern eine Quelle des Profits. Nur eine Person steht ihm im Weg: Sergej Kechimov. Deswegen sucht der Konzern Mittel und Wege, ihn loszuwerden.

Das Wasser des Imlor von Öl belastet

Sergej Kechimov macht sich Sorgen. Vorerst weniger um sich. Immer häufiger flimmert ein Ölfilm in vielen Farben auf dem Wasser des Imlors. Er kommt von der Ölförderung in der Region. Der Schamane wirft Energiekonzernen vor, für die Verschmutzung der Flüsse verantwortlich zu sein, die in den Imlor münden. Fische sterben, das Erdreich wird verschmutzt und der Lebensraum der Rentiere zerstört.

Das Resultat von gebrochenen Ölpipelines sind Wiesen, die der Ölschlamm braun gefärbt hat; Bäume, an deren Stämmen ein dunkler Film klebt; und eben jene regenbogenfarbenen Schlieren, die auf den Wellen des Imlors treiben. An dessen Ufern haben Wilderer darüber hinaus Jagdhütten errichtet. Sie hinterlassen Zigarettenkippen und anderen Müll. Und immer enger kreisen die Ölfirmen den See mit ihren Bohrungen ein. Dafür roden Arbeiter den Wald und zerstören die Wiesen, auf denen die Rentierherden eigentlich weiden.

In den 1980er Jahren kamen die Ölkonzerne an den Imlor. Eine Million Tonnen Öl, so schätzte die russische Firma Surgutneftegas im Jahr 2013, lagern unter dem See. Es ist ein Wirtschaftsgut im Milliardenwert. Aufgrund massiver Proteste seitens der lokalen Bevölkerung bekam Surgutneftegas lange keine Genehmigung, das Öl zu fördern. Doch schließlich erzielte die Unternehmensleitung 2012 eine Einigung mit dem Gouverneur der Region. Rund um den See begannen die Ölbohrungen. Seitdem zieht sich der Ring der Ölplattformen von Surgutneftegas immer enger um den See zusammen – auch dort, wo Sergej Kechimov mit seiner Frau wohnt und seinen traditionellen wirtschaftlichen Tätigkeiten nachgeht.

Für die Chanten ist Kechimov der Wächter des Sees. Seine Aufgabe ist es, auf ihn aufzupassen, ihn sauber zu halten und ihn vor jeglichem Schaden zu bewahren. Seine Rolle nimmt er ernst. Mit der Zeit wurde Sergej Kechimov zu einem ständigen Ärgernis für das Unternehmen. Er beschwert sich häufig bei der Unternehmensleitung über die Ölverschmutzungen und den von den Ölarbeitern hinterlassenen Müll.

Schon oft wurde Kechimov Geld dafür angeboten, dass er wegzieht. Aber die Summen für sein Land waren ihm zu gering. Andere Anwohner*innen handelten gegenteilig. Sie gaben ihr Eigentum für relativ geringe Geldbeträge bereits auf. Nach und nach zogen die Einheimischen weg. Sergej Kechimov blieb.

Wie lange kann Sergej Kechimov den See noch schützen?

Für seine Entschlossenheit, den See bis zuletzt zu verteidigen, wird Kechimov kriminalisiert. Das begann im Jahr 2014. Ein streunender Hund griff damals seine Rentiere an. Kechimov erschoss ihn. Einige Tage später besuchten ihn bewaffnete Arbeiter des Ölkonzerns und ein Polizist. Sie verfolgten einen Plan und nutzten dabei seine wenigen Russischkenntnisse aus: Sie gaben ihm ein Dokument auf Russisch, das er nicht verstand. Im Glauben, es ginge um den Hund, unterschrieb er. In Wirklichkeit jedoch war es ein Geständnis, wonach er den Mitarbeitern des Ölkonzerns gedroht hätte, sie zu erschießen. Zusammen mit dem Geständnis unterzeichnete Kechimov ein weiteres Dokument, in dem er erklärte, dass er keine Übersetzung benötige. Aber auch dieses Dokument verstand er nicht.

2017 wurde Sergej Kechimov für die erfundene Bedrohung der Konzernarbeiter für schuldig befunden und zu 30 Stunden Zwangsarbeit verurteilt. Glücklicherweise wurde er wenig später jedoch aufgrund einer Amnestie von der Verbüßung seiner Strafe befreit. Trotzdem sind die Behörden nicht auf seiner Seite, was ein weiterer Zwischenfall belegt.

2019 versuchte Sergej Kechimov auf einer Versammlung von Bewohner*innen der Siedlung Numto das Wort zu ergreifen. Numto befindet sich im selben autonomen Gebiet Chanty-Mansi in der Nähe eines anderen heiligen Sees. Auf der Versammlung erörterte der Ölkonzern Surgutneftegas seine Pläne, neue Fördergebiete erschließen zu wollen. Diese Gebiete grenzen an und fallen in den Naturpark Numto. Vertreter der Bezirksverwaltung hinderten Sergej Kechimov daran, sich zu beteiligen. Schließlich verwiesen Polizeibeamte ihn des Versammlungsortes.

Neue konstruierte Straftat seit September 2021

Im September 2021 wurde ein weiteres Strafverfahren gegen Sergej Kechimov eingeleitet. Als Anfang desselben Monats Unbekannte unweit seines Sommerhauses Bäume fällten und das Gelände räumten, stellte er sie zur Rede. Sie benutzten einen Traktor, um ihre Arbeit zu erledigen. Er fragte sie nach dem Grund für die seiner Meinung nach illegalen Arbeiten. Es kam zu einer verbalen Auseinandersetzung, die in einer Schlägerei mündete. Nach Aussage Kechimovs hatten die Arbeiter diese begonnen. Fest steht: Er war in der Unterzahl, stellte sich ihnen alleine.

Wenige Stunden später trafen Polizeibeamte in seinem Lager ein und beschlagnahmten Kechimovs einzige Schrotflinte. Sie versuchen, auch sein Mobiltelefon an sich zu nehmen. Aber er schafft es, dies zu behalten. Lange hatte Sergej Kechimov keine Informationen, ob der Zwischenfall Konsequenzen nach sich ziehen würde. Doch dann konnte eine ansässige Umweltorganisation herausfinden, dass gegen ihn Anzeige erstattet worden war. Wieder ist es ein Strafverfahren wegen einer Straftat nach Artikel 119 des russischen Strafgesetzbuches: Bedrohung.

Am 13. Dezember 2022 befand das Gericht Sergey Kechimov für schuldig, eine Straftat gemäß Teil 1 Artikel 119 des Strafgesetzbuches der Russischen Föderation „Androhung von Mord oder schwerer Gesundheitsschädigung“ begangen zu haben, und verurteilte ihn zu einer 6-monatigen Freiheitsbeschränkung.

Sergej Kechimov hat aber Unterstützer*innen vor Ort und auch im Exil, wie das Internationale Komitee indigener Völker Russlands (ICIPR). Sie alle sammeln Material, dokumentieren seinen Fall, machen auch im Ausland auf das Unrecht aufmerksam, das ihm widerfährt. Außerdem suchen sie einen geeigneten Anwalt.

Aber gerade für Menschen vor Ort ist es schwer, ihre Stimme zu erheben. Viele Menschen denken zwar vielleicht wie Sergej Kechimov, können sich aber Behörden und Unternehmen nicht so entschieden entgegenstellen wie er. Zu sehr befürchten sie ähnliche Konsequenzen. Sergej Kechimov aber zeigt uns: Oft ist es nur eine Stimme, die trotzdem internationale Aufmerksamkeit erreicht. Sergej Wassilowitsch Kechimov wird seinen heiligen See nicht so schnell aufgeben. Will Surgutneftegas an das Öl, muss der Konzern erst an ihm vorbei.


Dieser Artikel erschien in der Für Vielfalt, Ausgabe 332, 05/2022.

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