2006 wurde Evo Morales zum ersten indigenen Präsidenten Boliviens gewählt. Hat sich dadurch die Situation der Indigenen verbessert? Was hat sich vielleicht auch verschlechtert? Und wie ist die Situation aktuell nach dem Rücktritt von Evo Morales 2019?
Von Birte Mundt, Foto: Juan Alvaro via flickr
Aymara und Quechua – Indigene Völker in Bolivien
Im Plurinationalen Staat Bolivien gehört circa die Hälfte der Bevölkerung einem der 36 anerkannten indigenen Völker an.[1] Die beiden größten indigenen Völker sind die Quechua und Aymara. Diese leben vor allem in Gemeinden in den Andengebieten Boliviens (Altiplano) und sind als Landwirt*innen tätig. Neben den Quechua (ca. 2,5 Millionen Menschen) und Aymara (ca. zwei Millionen Menschen) gibt es sowohl im Altiplano als auch im Tiefland viele weitere indigene Völker. Beispielhaft dafür zu nennen sind die Guaraní (ca. 133.000 Menschen), die Moxeño (ca. 76.00 Menschen), die Afro-Bolivianer*innen (ca. 22.000 Menschen) und die Moré (ca. 100 Menschen).[2]
Evo Morales: Der Beschützer der Indigenen? Durch Verfassungsänderungen in den Jahren 1994 und 2009 bekamen die indigenen Völker in Bolivien eine Vielzahl an Rechten zugesprochen. Mit Evo Morales kam 2006 erstmals ein Indigener, ein Aymara, ins Präsidentenamt. Antonia R., eine Quechua-Angehörige und indigene Aktivistin, die sich mir für ein Interview zu diesem Thema zur Verfügung gestellt hat, sieht Morales Regierungszeit vor allem positiv: „Mit der Regierung von Bruder Evo Morales gab es Vertrauen in die freie Meinungsäußerung. Die Menschen hatten das Gefühl, dass wir einen Präsidenten unserer ethnischen Abstammung, Hautfarbe und bäuerlichen, indigenen Wärme, wie wir, hatten und die Gesellschaft fühlte sich frei“. Weiter erzählt sie zur Repräsentation der
Quechua und Aymara in der Gesellschaft: „Von 2005 bis 2019 gab es unter Präsident Evo Morales eine große Repräsentation von Menschen vom Land und Einwanderern von der Basis, die in öffentlichen Ämtern in hohen Positionen […] tätig waren. Das Volk der Aymara hat sich wirtschaftlich stark entwickelt, viele Medien haben Programme in den Muttersprachen Aymara und Quechua (am Vormittag) und Kulturprogramme in der Originalsprache“.
Luciano V., ein Bolivianer ohne indigene Abstammung, hat sich ebenfalls bereiterklärt, mir Fragen zu diesem Thema zu beantworten. Auch er vertritt im Hinblick auf indigene Völker in Bolivien eine positive Meinung zur Amtszeit von Evo Morales. Allerdings äußert er sich im Interview mir gegenüber auch kritisch zu Morales: „Mit der Ankunft von Evo in der Präsidentschaft gab es eine größere Präsenz oder Sichtbarkeit der indigenen Völker und ihnen wurde mehr Bedeutung beigemessen. Jedoch wurden keine weiteren Maßnahmen ergriffen, um ihre Situation zu verbessern“.
Durch Evo Morales kam es in Bolivien zu einer größeren Anerkennung der indigenen Völker, ihrer Sprachen, Traditionen und Kultur sowie zu einem besseren Zugang zur Bildung. Letzteres ist vor allem für die Menschen auf dem Land, die häufig Indigene sind, entscheidend. Auch die Aufwertung der traditionellen, spirituellen Religion der indigenen Völker gilt als wichtiges Projekt von Evo Morales. Der in der Kolonialzeit aufgezwungene Katholizismus, dem über 90% der Bolivianer*innen angehören,[3] verlor mit der Verfassungsreform im Jahr 2009 seine Status als Staatsreligion. Seit 2019 sind alle religiösen Gemeinschaften gleichgesetzt.[4]
Religion der Aymara und Quechua – Gott und Pachamama
Neben dem christlichen Glauben an einen Gott spielt die indigene Kosmovision mit ihren spirituellen Traditionen und Riten im Leben vieler Quechua und Aymara eine große Rolle. Die Kosmovision ist die Sicht der andinen Indigenen auf den Kosmos, ihre Umwelt und das Leben auf dieser Erde. Der Glauben an Magie, Geister, Gött*innen und vor allem an Pachamama, die
Mutter Erde, prägen die Quechua und Aymara. Pachamama schenkt und schützt das Leben und gilt als Vermittlerin zwischen den Welten. Das Bild der Pachamama hat sich mit der Zeit, vor allem durch die Kolonialisierung, verändert, sodass sie heute häufig mit der Jungfrau Maria zu einer Person verschmilzt.
Die Quechua-Angehörige Antonia R. erzählt: „Das tägliche Leben der indigenen Bevölkerung ist mit der andinen Spiritualität verbunden. Riten und Traditionen halten unsere Kulturen am Leben. Spiritualität ist in landwirtschaftlichen Aktivitäten im ländlichen Raum präsent und wird auch in städtischen Räumen praktiziert […]. Es ist üblich, Gott sowie Pachamama (Mutter Erde/Natur) und Tayta Inti (Vater Sonnen) täglich anzufragen.“
Erst große Hoffnung, dann viel Kritik an Morales
Im Laufe seiner fast 14-jährigen Amtszeit wuchs die Kritik an Evo Morales und seiner Politik. 2016 ignorierte er ein Referendum, bei dem sich die Bevölkerung dagegen aussprach, dass eine Person immer wieder zu Präsidentschaftswahlen antreten kann. 2019 trat er schließlich unter dem Druck der Öffentlichkeit zurück. Zu diesem Zeitpunkt bestritt er bereits die vierte Amtszeit als Präsident, obwohl die Verfassung nur zwei erlaubt. In den Augen vieler wirkte er daher als machtbesessen.
Doch bereits vorher machte Morales negative Schlagzeilen. Im Laufe seiner Präsidentschaft wurde seiner Partei MAS vorgeworfen, undemokratischer zu werden. Kritik von innen und außen sei abgelehnt und als „rechts“ zurückgewiesen worden, die Justiz sei für eigene Zwecke benutzt worden, indigene Themen seien in den Hintergrund gelangt und im Gegenzug dazu der Antikapitalismus immer relevanter geworden.[5] Auch für die verheerenden Großbrände in den Wäldern und im Buschland Boliviens im Sommer 2019, die über fünf Millionen Hektar Natur vernichtet haben, wird Morales Partei MAS verantwortlich gemacht. Als Hauptursache für die Katastrophe werden außer Kontrolle geratene Brandrodungen vermutet, die von der MAS genehmigt wurden.[6] Die MAS und ihre Politiker*innen werden häufig lediglich als Vertreter*innen der Indigenen des Altiplanos gesehen, die nicht die Interessen der Indigenen des Tieflandes repräsentieren und so unter anderem die Waldzerstörung vorantreiben.
Die Situation der indigenen Völker verschlechtert sich
In der Zeit nach Evo Morales Rücktritt Ende 2019 hat sich die Situation für die Indigenen verschlechtert. Durch die einjährige Machtübernahme der konservativen Interimspräsidentin Jeanine Áñez und die darauffolgende Präsidentschaft des MAS-Politikers Luis Arce sowie durch den anhaltenden Streit über den Ausgang der Wahlen und den Abgang von Morales 2019 ist die Gesellschaft Boliviens tief gespalten. Luis Arce, der einst als Hoffnungsträger galt, lässt, wie bereits seine Vorgängerin, mit Hilfe der Justiz Oppositionspolitiker*innen verhaften. Auch EX-Präsidentin Jeanine Áñez wurde am 13. März 2021 festgenommen. Gewaltvolle Proteste in diesen Zusammenhängen sind häufig von Indigenen-Feindlichkeit und Rassismus beeinflusst. [7]
Antonia R. sieht die aktuelle Situation problematisch: „Aktuell spüren wir Indigene in Bolivien, dass wir Räume für Partizipation verlieren, weil eine Neuaufstellung der Repräsentation nicht erreicht wird.“In der bolivianischen Bevölkerung existiert weiterhin eine polarisierte Zwei-Klassen-Gesellschaft. Auf der einen Seite ist die reiche, vor allem weiße, spanischsprachige Oberschicht der Großstädte und auf der anderen Seite der ärmere Großteil der Bevölkerung, unter ihnen viele Indigene. „Wir indigenen Völker integrieren uns in die Gesellschaft mit Meinungsfreiheit, Vertrauen in Kultur und Bräuchen. Leider gibt es eine Polarisierung einiger städtischer Sektoren gegen die Indigenen, die alle indigenen sozialen Bewegungen mit der politischen Partei assoziieren und jeden Anspruch auf soziale Gerechtigkeit als politischen Akt stigmatisieren“, empfindet Antonia R.. Auch Luciano V. sieht weiterhin Klassenunterschiede: „Je nach sozialer Klasse gibt es immer noch Rassismus gegenüber indigenen Völkern und dieser hat sich 2020 verschärft, nichtsdestotrotz sind die Indigenen Teil des Landes.“
Mit Evo Morales kam 2006 für viele indigene Völker Boliviens ein Hoffnungsträger, der die Situation für viele Indigene zuerst verbessert hat, mit der Zeit aber zu einem korrupten und machtbesessenen Politiker wurde. Viele indigene Völker des Tieflandes wurden durch Morales Politik benachteiligt. Auch seine Nachfolger*innen konnten die anhaltende Spaltung der Bevölkerung bisher nicht beheben. Rassismus, Korruption und Polarisierung sind weiterhin Realität. Der Plurinationale Staat Bolivien scheint kein Paradies für indigene Völker zu sein.
Autorinneninformationen
Birte Mundt studiert Sozialwissenschaften an der Georg-August-Universität Göttingen und war von 2017 bis 2018 in Bolivien. Für diesen Artikel führte sie Interviews mit der Quechua-Angehörigen und Indigenen-Aktivistin Antonia R. sowie mit dem Bolivianer Luciano V., die sie in ihrer Zeit in Bolivien kennengelernt hat. Die Zitate aus den Interviews spiegeln Einzelmeinungen wider, die nicht den Anspruch haben, eine Gruppe, ein indigenes Volk oder einen Bevölkerungsteil zu repräsentieren.
Quellen
Die Angaben über die Personenanzahl der indigenen Völker in Bolivien schwankt je nach Quelle stark (Quelle: http://www.amazonia.bo/indigena_index.php)
Ethnien und Religion – Bolivien Reisen & Informationsportal
Boliviens Regierung verabschiedet neues Religionsgesetz | amerika21
https://taz.de/Proteste-und-Morales-Sturz-in-Bolivien/!5638564/
Evo Morales: Illegale Kandidatur, ziviler Ungehorsam | ZEIT ONLINE
https://www.hss.de/news/detail/das-erste-jahr-von-praesident-luis-arce-news8177/, https://www.amnesty.de/informieren/amnesty-report/bolivien-2021