USA wollen indigene Bevölkerung ein halbes Jahrhundert nach Atomtests zur Rückkehr bewegen

Leseprobe aus: bedrohte Völker – pogrom Nr. 259, 2/2010

Am 1. März 1954 detonierte auf dem Bikini-Atoll im Pazifik de Wasserstoffbombe „Bravo“. Sie war die größte Bombe, die die USA je gezündet haben – und verursachte die bis dato schlimmste Strahlenkatastrophe auf amerikanischem Territorium. Überlebende auf dem nächstbewohnten Atoll Rongelap berichten von Erbrechen, Verbrennungen und Haarausfall. Viele ihrer Kinder wurden in der Folgezeit tot oder mit Missbildungen geboren. 30 Jahre nach dem Vorfall hatten 95 Prozent der damals lebenden Bevölkerung einen Schilddrüsentumor gehabt. Dennoch fordern die USA nun die Rückkehr der Menschen auf ihr Atoll.

Von Birke Gerold; Foto: Bikini-Atoll 1946 via Flickr

Die Atolle Bikini und Rongelap gehören zu den Marschallinseln, einem Inselstaat im Westpazifik. Ihre Bewohner zählen zur ethnischen Gruppe der Mikronesier, deren Vorfahren vor tausenden Jahren aus Südostasien kamen. Früher lebten sie vor allem vom Fischfang und bauten Kokosnüsse, Brotfrüchte und Pandanus an. Heute sind ihre wichtigsten Einnahmequellen das Kunsthandwerk, die Fischverarbeitung und der Verkauf traditioneller Nutzpflanzen. Fast alle Bewohner der Marschallinseln sind Christen, 90 Prozent davon sind Protestanten.

Nach dem Zweiten Weltkrieg gehörten die Marshallinseln zum Treuhandgebiet der USA, die dort von 1946 bis 1958 Nuklearwaffentests durchführten. Der bei weitem bedeutungsvollste Test war die „Bravo“. Für die schwerwiegenden gesundheitlichen Folgen der in der Nähe lebenden Bevölkerung ist die US-Regierung unter Dwight D. Eisenhower verantwortlich, die es nicht für nötig hielt, die weniger als 200 Kilometer vom Bikini-Atoll entfernten Bewohner des Rongelap-Atolls zu evakuieren. Denn zum einen sollte der Test geheim bleiben, zum anderen war die Sprengkraft der Bombe um das Dreifache unterschätzt worden. Ferner missachteten die Verantwortlichen Warnungen über veränderte Wetterverhältnisse, weshalb der radioaktive Niederschlag durch Höhenwinde auf Atollen wie Rongelap niederging.
Erst 48 Stunden nach der Katastrophe veranlassten die USA die Evakuierung der 64 Rongelapesen. Bereits nach drei Jahren siedelten sie diese wieder auf ihr Atoll zurück. Selbst als Studien 1985 eine erhöhte Radioaktivität auf den Inseln nachwiesen, ignorierte die US-Regierung unter Ronald Reagan Bitten der Bewohner um eine erneute Evakuierung.
Daraufhin suchten die mittlerweile etwa 300 Rongelapesen Hilfe bei der Umweltschutz-Organisation Greenpeace, die sie im Mai 1985 auf die 180 Kilometer entfernte Insel Mejatto umsiedelte. Greenpeace befand sich zu dieser Zeit mit ihrem Flaggschiff „Rainbow Warrior“ auf einer Tour, die „dazu beitragen [sollte], die USA und Frankreich als das zu demaskieren, was sie waren: zwei Atommächte, die sich mit offensichtlicher Gleichgültigkeit gegenüber der Umwelt der Pazifikinseln und der Gesundheit ihrer Bewohner auf die Entwicklung und den Test neuer Atomwaffen stürzten.“ Angesichts des fahrlässigen Verhaltens der USA stellt sich heute die Frage, ob die überlebenden Inselbewohner bewusst als Testobjekte missbraucht wurden, um die Auswirkungen radioaktiver Strahlung auf Menschen zu untersuchen. „Wir fühlen uns wie Versuchskaninchen“ , bringt es Lijon Eknilang, ein Opfer der Explosion, auf den Punkt.

Als eine Art verspätete Wiedergutmachung ihres Fehlverhaltens richteten die USA unter Bill Clinton im Jahr 2000 einen Aufräum- und Wiederaufbaufonds über 45 Millionen Dollar für das Rongelap-Atoll ein. Doch diese Summe täuscht über verbleibende Defizite hinweg. So wurden zwar ein Kraftwerk, eine Wasseraufbereitungsanlage und Straßen gebaut – aber nur neun von 50 geplanten Häusern.
Neben Baumaßnahmen unterstützte der Fonds die Erdaufbereitung, aufgrund derer die USA das heutige radioaktive Niveau auf den Inseln als bedenkenlos einschätzen. Im Februar 2010 teilte das kalifornische Lawrence Livermore National Laboratory mit, „die natürliche Hintergrunddosis und die mit den Nukleartests verbundene Dosis auf Bikini, Enjebi und Rongelap wären zusammen immer noch geringer als die übliche Hintergrunddosis in den USA oder Europa“. Dies sei möglich, da die künstliche Erdaufbereitung durch einen natürlichen Prozess unterstützt worden sei: Bei Regen löse sich das radioaktive Material von den Pflanzen und verlöre sich in das Grund- und letztendlich Meerwasser – ein Prozess mit einer höheren Verlustrate als radioaktiver Zerfall.

Angesichts der scheinbar gebannten Gefahr stellten die USA den Rongelapesen im Oktober 2009 ein Ultimatum: Entweder sie kehren bis Oktober 2011 zu ihrem Atoll zurück oder ihnen wird die Unterstützung für ihre Gemeinschaft gestrichen. Doch die Inselbewohner sträuben sich gegen eine Rücksiedlung. Sie glauben nicht, dass ihr Atoll sicher ist. „Das Gift ist da, auch wenn man es nicht schmecken, riechen oder sehen kann“, meint die 70-jährige Lemeyo Abon, Präsidentin der Rongelap-Überlebendengruppe. Sie vertritt damit die Meinung vieler. „Ich habe Angst. Wenn wir zurückgehen, bedeutet das unseren Tod. Wollen uns die USA umbringen?”

Als Bedingung für eine Rückkehr fordert der Bürgermeister des Rongelap-Atolls, James Matayoshi, von den USA eine langfristige Übernahme der Verantwortung für die Spätfolgen der Katastrophe. Das amerikanische Energieministerium ist auch durchaus bereit, ein Sicherheitskontrollprogramm in Zusammenarbeit mit der Rongelap-Regierung einzurichten. Doch selbst eine fortgesetzte Unterstützung durch die USA würde nicht alle Probleme beheben. Abon weist darauf hin, dass sich die amerikanischen Aufräumarbeiten auf die Hauptinsel des Rongelap-Atolls konzentriert hätten, die ausgesiedelte Gemeinschaft jedoch gewachsen sei und bei einer Rückkehr gezwungen wäre, auch auf noch verseuchten Nachbarinseln zu siedeln.

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