Nach dem Ende des Kosovo-Kriegs im Juni 1999, waren bis zu 100.000 Roma, Aschkali und Kosovo-Ägypter gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Bevor der Bezirk Fabrička Mahala in Mitrovicë/Mitrovica im Norden des Kosovo am 21. Juni 1999 angegriffen und niedergebrannt wurde, war es ein lebhafter Ort mit knapp 8.000 Einwohnern. Menschen wurden getötet und tausende wurden vertrieben, während die internationalen „Friedenstruppen“ der NATO-geführten Kosovo Force (KFOR) tatenlos zusahen. Die Vereinten Nationen errichteten temporäre Flüchtlingslager (Camps) für die Vertriebenen. Roma, die ursprünglich nur für ein paar Monate in den Camps untergebracht werden sollten, blieben schließlich für Jahre – auf toxischem Boden. Erst im Jahre 2013, nach 13 Jahren in bleiverseuchter Umgebung, wurde das letzte Camp geschlossen.
Von Argentina Gidžić, Owen Beith, Jasna Causevic (Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV); Foto: Drton C. mit seiner Frau vor ihrem Haus in Süd-Mitrovica. Credit: Argentina Gidžić.
„Ich weiß nicht, wie viel Blei in meinem Blut war. Ich erinnere mich nur, dass meine Kinder die Pillen nahmen, die sie uns im Camp gaben, aber seit wir zurückgekehrt sind, kümmert sich keiner mehr um uns – und keiner führt mehr Untersuchungen an meinen Kindern durch… Ich wusste nicht, wen ich bezüglich solcher Untersuchen für meine Kinder fragen konnte, und ich bin selber krank und kann nichts tun.“ Fetija S., eine Witwe mit 10 Kindern, hat keine Vorstellung davon, wie sehr sie und ihr inzwischen verstorbener Mann den Giftstoffen ausgesetzt waren, während sie im vielleicht am stärksten kontaminierten Gebiet in Europa lebten – in der bleiverseuchten Umgebung der Trepča-Mine in Mitrovicë/Mitrovica, Kosovo, wo Roma, Aschkali und Ägypter, die vor der Gewalt im Nachkriegs-Kosovo fliehen mussten, vorübergehend untergebracht wurden.
Drton C. erzählt eine ähnliche Geschichte: Er und seine Familie brachten 10 Jahre in den Camps in Mitrovicë/Mitrovica zu. Ständig atmete er vom Wind aufgewirbelte Staubpartikel ein und verschluckte sie. Er erinnert sich an ein Kribbeln – „so als ob etwas auf mir herumkrabbelt, eine Ameise vielleicht“ – und an Schmerzen in der Magengegend, so als ob sich etwas in ihm herumbewegte. „Meine Kinder hatten Kopfschmerzen und Bauchschmerzen, sie übergaben sich und hatten hohes Fieber. Sie fühlten sich sehr schwach und ihnen war schwindelig – sie konnten kaum ihre Arme heben.“
Fetija S., Drton C. und ihre Familien gehören zu den Roma, Ashkali und Ägyptern aus dem Bezirk Fabrička Mahala in Mitrovicë/Mitrovica, die im Juni 1999 aus ihren Häusern vertrieben wurden.
Hunderte ehemalige Bewohner des Bezirks fanden Zuflucht in Behelfs-Unterkünften, die vom UN Flüchtlingskommissariat (UNHCR) in den Camps Žitkovac/Zitkovc, Kablare/Kablar und Česmin Lug/Llugë, sowie Leposavić/Leposaviq eingerichtet wurden.
Die ersten drei Camps wurden auf Land errichtet, das mit Schwermetallen verseucht war – u. a. Blei, Arsen und Cadmium – in Konzentrationen, die die nationalen und internationalen Grenzwerte um ein Vielfaches überschritten. Das Camp in Leposavić/Leposaviq war ein Ein-Raum Hangar, der nicht für die Unterbringung von Familien geeignet war.
In den Camps wurde nur wenig unternommen, um eine gesundheitsfördernde Ernährung sicherzustellen, so Drton C.: „Sie gaben uns Essen, so wie sie Hunde füttern würden.“ Die Familien mussten ihre leeren Saftpackungen zurückgeben, bevor sie neue Rationen erhielten. Später, nachdem sie umgesiedelt worden waren, „….gab es niemanden mehr, der uns half oder Medizin bereitstellte.“
Ab dem Jahr 2000 waren die Vereinten Nationen über das ganze Ausmaß der Bleibelastung in den Camps und in der Umgebung informiert. Die UN richteten Vorsichtsmaßnahmen für Ihre Mitarbeiter ein – aber sie versäumten es, die Roma zu informieren, die in den Camps lebten und den Giften dadurch noch jahrelang ausgesetzt waren.
Im Jahr 2004 machten Roma-Aktivisten erstmals die Behörden und die Medien auf Fälle von Bleivergiftungen bei Kindern im Camp aufmerksam. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) untersuchte noch im selben Jahr die Kinder und warnte vor den chronischen und irreversiblen Schäden, die Blei im menschlichen Körper verursachen kann – mit einem dringenden Appell an die UNMIK (Interimsverwaltungsmission der Vereinten Nationen im Kosovo/englisch: United Nations Interim Administration Mission in Kosovo), Kinder und schwangere Frauen umgehend aus den Camps zu evakuieren.
Ebenfalls im Jahr 2004 wurde der Tod eines jungen Mädchens in Žitkovac/Zitkovc, Jenita Mehmeti, mit einer Bleivergiftung in Zusammenhang gebracht.
Im Jahr 2006 wurden bei Bluttests an Kindern Bleiwerte festgestellt, die die Grenze des Messbaren überstiegen.
Weiterhin verlegte UNMIK insgesamt 560 Bewohner der Camps Žitkovac/Zitkovc, Kablare/Kablar und Česmin Lug/Llugë zum Camp Osterode – ehemalige Baracken in unmittelbarer Nähe zum Camp Česmin Lug/Llugë.
In der Umgebung von Osterode waren Abraumberge einer geschlossenen Bleihütte aufgetürmt. Mit jedem Windzug wurde giftiger Staub in das Camp geweht. Während die anderen Camps bis 2010 nach und nach zugemacht wurden, wurde das Camp Osterode erst im Jahr 2013 geschlossen.
Für viele der ehemaligen Campbewohner wurden die Warnungen der WHO in Bezug auf die Langzeitfolgen bittere Realität.
Fetija S. wurde nie umfassend medizinisch untersucht – aber sie weiß, dass sie schwer krank ist. „Mir geht es nicht gut – ich habe Herzprobleme und Probleme mit dem Blutdruck. Ich bekomme nur schwer Luft.“ Sie muss für ihre Kinder sorgen, die unter einer Reihe von gesundheitlichen Problemen leiden.
Im Jahr 2016 befand das UN Human Rights Advisory Panel, dass UNMIK das Recht der Opfer auf Leben und körperliche Unversehrtheit verletzt hatte – mit dem Rat an die Organisation, „…geeignete Maßnahmen zu treffen, um angemessene Entschädigungen zu leisten.“ Die Vereinten Nationen hingegen haben bis heute keine Entschädigungen gezahlt und sich nicht einmal offiziell entschuldigt.
Fetija S. fällt es schwer, mit der Armut umzugehen. Sie durchwühlt Abfall, um ihre Kinder zu ernähren – ansonsten müsste sie sich entscheiden, ob sie Lebensmittel kauft oder lieber die Heizkosten bezahlt.
Wie Fetija S., kommt auch Drton C. kaum über die Runden. „Alles ist so teuer – und wir haben nicht genug Geld, nicht einmal für ganz alltägliche Lebensmittel, für Brot.“ Und wenn man mit dem Sammeln von Coladosen fürs Recycling (3 Euro Tageslohn) gerade einmal genug verdient, um Brot zu kaufen, kann man nicht einmal die Medikamente kaufen, von denen man weiß, dass man sie braucht. „So ist mein jüngerer Bruder Vebi gestorben – und er hat 3 Kinder und seine Frau hinterlassen.“
Im Jahr 2017 ließ die Gesellschaft für bedrohte Völker die Langzeitfolgen bei 50 Familien (mit 213 Kindern) auswerten. Die Befragten berichteten über eine Vielzahl an Symptomen – unter anderem neurologische Probleme, geschwächte Immunsysteme, Nieren- und Herzprobleme, Atemwegserkrankungen, motorische Probleme, Gedächtnisschwäche und dergleichen mehr. Zudem wurden die Langzeitfolgen von Krankheit und Vernachlässigung untersucht: unterdurchschnittliche Leistungen im Bildungsbereich, geringere Beschäftigungsaussichten, Armut und Diskriminierung.
Verschiedene Organisationen und Journalisten versprachen, sich um Hilfe zu bemühen und sogar, die Opfer in ein anderes Land zu bringen – aber „sie kamen nie zurück“, sagt man. Nachdem die Familien umgesiedelt worden waren, wurde ihnen mitgeteilt, dass sie von einem Arzt im Ort untersucht werden würden. Doch auch dort wurden sie im Stich gelassen „wie von allen anderen auch“. Vier Mitglieder der Familie von Drton C. – sein Vater, seine Mutter, der Bruder und die Nichte – sind mit Symptomen einer Bleivergiftung gestorben: Atemwegsprobleme, Erbrechen und Krebs. Drton C. hat ein Krebsgeschwür an seiner Hand. Es muss entfernt werden, aber er hat kein Geld für die Operation.
Wären da nicht die einzelnen Aktivisten und die Menschenrechtsorganisationen gewesen, hätte kaum jemand vom Leiden der Roma, Aschkali und Ägypter erfahren, die aufgrund eines Verschuldens seitens der Vereinten Nationen an Bleivergiftungen litten und leiden. Dennoch – trotz der Bemühungen der Aktivisten und der Menschenrechtsorganisationen – haben die Betroffenen immer noch keine Gerechtigkeit erfahren. Menschen sind gestorben, es gibt Menschen, die immer noch leiden, und die Vereinten Nationen sind nicht bereit, Verantwortung zu übernehmen – im Widerspruch zum Urteil ihres eigenen Gremiums, dem Human Rights Advisory Panel.
Die Gesellschaft für bedrohte Völker hat auf diese Fälle auch in einem ausführlichen Report hingewiesen. (PDF, 2018)
Verfasser:
Argentina Gidžić, Owen Beith, Jasna Causevic (Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), Deutschland;
Der Text im Original ist hier nachzulesen.