„Ich war einmal ein Mädchen, aber ich bin es nicht mehr. Ich rieche. Bin voller getrocknetem, verkrustetem Blut, und mein Kleid ist zerfetzt. Mein Inneres ein Morast“ – so beginnt der Roman „Das Mädchen“ von Edna O’Brien (Hoffmann und Campe Verlag, 2020). Die irische Schriftstellerin schreibt über die Entführung der Schulmädchen in Nigeria im Jahr 2014. Um das Schicksal besser verstehen zu können, reiste die 90-Jährige in den Nordosten Nigerias. Daraus entstand ein so starker Roman, der die Leser*innen nicht mehr loslässt.
Von Caroline Siems, GfbV-Referentin für digitale Kommunikation; Foto: GfbV-Archiv
Die Protagonistin Maryam erzählt in dem Buch von ihrer Flucht und ihrer Rückkehr nach Hause nachdem sie von der terroristischen Gruppe Boko Haram verschleppt und mehrmals vergewaltigt wurde. Die Hilflosigkeit der Mädchen und die grausamen Machtdemonstrationen der Männer lassen mich sprachlos zurück. Eindrücklich schildert O’Brien die perfide sexualisierte Gewalt, mit der sich die jungen Schülerinnen konfrontiert sehen müssen. In ihrer Zwangsehe mit einem Kämpfer wird Maryam vergewaltigt und schwanger. Das Verhältnis zu ihrem Kind Babby ist von Anfang an sehr schwierig. Maryam betrachtet sie als fremdes Tier, vernachlässigt Babby und kann ihr anfangs keinerlei Liebe entgegenbringen. Doch Maryam, Babby und einer Freundin Maryams gelingt es zu fliehen. Die Flucht ist grausam und ein steiniger Weg. Endlich zuhause angekommen wird die Ich-Erzählerin diskriminiert, stigmatisiert und mit Verachtung empfangen, wenn auch zunächst vom Bürgermeister wie eine Trophäe ausgestellt. Ihr Vater ist gestorben und ihr Bruder wurde auf der Suche nach ihr ermordet. Babby wird ihr weggenommen mit der Lüge, ihr Kind sei gestorben. Nach einem langen Gespräch mit dem Pfarrer stellt sich die Mutter von Maryam auf die Seite ihrer Tochter und gesteht ihr, dass Babby noch lebt. Maryam kämpft daraufhin für die Zukunft ihres Kindes und nimmt eine Stelle als Lehrerin an:
Ich war von einer ekstatischen Freude erfüllt, wie ich sie noch nie erlebt hatte. Wir waren in Sicherheit. Wir hatten ein Zuhause gefunden, zumindest fürs Erste. Licht ergoss sich ins Zimmer, erhellte das Universum. Alles war Stille. In diesem Moment ungetrübter Hoffnung, ungetrübten Glücks war mir, als dränge dieses Licht bis in die dunkelsten Schichten des Landes.
Klar, scharf und präzise, eindringlich und aufrüttelnd erzählt O’Brien eine Geschichte voller Wut und Grausamkeit einerseits, Glück und Hoffnung andererseits. Die Autorin schafft es, dass sich der*die Leser*in innerhalb von Sekunden zwischen Trauer, Fassungslosigkeit und Freude befindet. Eindrücklich werden die patriarchale Gewalt und die Stigmatisierung von Frauen, die sexualisierte Gewalt erleben mussten, beschrieben. Doch auch die Folgen der Vergewaltigung – eine ungewollte Schwangerschaft – werden sehr nachvollziehbar geschildert: die Mutter, die ihr Kind zunächst nicht als ihr eigenes akzeptieren kann und gar hasst, aber dann zu lieben beginnt, als sie selbst von ihrer Gemeinschaft ausgegrenzt wird. Maryam ist eine starke, kraftvolle Protagonistin, die ihr Leben und das ihres Kindes in die eigene Hand nimmt.
http://www.hoffmann-und-campe.de/buch-info/das-maedchen-buch-12233/