Der Tschuktsche Mark Zdor und Putins Regime

Der indigene Tschuktsche Mark Zdor kam Mitte März 2023 mit einem humanitären Visum nach Deutschland. Die GfbV unterstützte ihn dabei. Als junger indigener Aktivist gehörte er zu den ersten, die im März 2022 auf den St. Petersburger Straßen gegen den Krieg in der Ukraine demonstrierten. Schnell geriet er ins Fadenkreuz der Behörden und musste das Land verlassen. Über Georgien gelang ihm schließlich die Flucht nach Deutschland. Er lebt nun in Hamburg und setzt seine Arbeit wie viele aus dem Exil fort. Auf Einladung der GfbV sprach er kürzlich bei einem Fachgespräch vor Abgeordneten des Bundestags über die Realität und Gefahren politischen Widerstands in Russland. Hier erzählt er seine Geschichte.

Aus dem Russischen übersetzt von Dmitry Berezhkov und Regina Sonk; Foto: Mark Zdor (ganz rechts) beim Parlamentarischen Frühstück mit Bundestagsabgeordneten und der GfbV

Mein Name ist Mark Zdor. Ich wurde in dem tschuktschischen Dorf Neshkan an der Küste des Tschuktschensee geboren. Es ist ein Dorf von Seejägern und Rentierzüchtern. Ich bin mit den traditionellen tschuktschischen Werten aufgewachsen: Wertschätzung der Natur, Respekt vor den Älteren, Freiheit und gleiche Rechte für alle.

Ich träumte davon, die tschuktschischen Sprache und ihre Verwendung zu erforschen. Im Jahr 2020 wurde ich Student an der Universität von St. Petersburg, in der Fakultät des Instituts für Völker des Nordens. An der Universität habe ich mich auch für indigene Völker engagiert. Die Hauptmotivation für mich war die Erkenntnis, dass nur wir, die indigenen Völker, in der Lage sind, unsere Identität zu bewahren.

An der Uni: Einsatz für indigene Rechte

Ich begann meine Arbeit für RAIPON als Jugendorganisation. [Anm d. R.: RAIPON steht für „Russische Assoziation der indigenen Völker des Nordens, Sibiriens und des Fernen Ostens der Russischen Föderation“ und war die unabhängige indigene Dachorganisation Russlands. 2012 wurde sie kriminalisiert und geschlossen, Vorsitzende mussten teilweise ins Exil. Heute ist sie mit ausschließlich staatstreuen Mitgliedern besetzt, vertritt Positionen des Kreml und unterstützt den Ukrainekrieg.] Wir haben viel Zeit und Mühe darauf verwendet, die Kultur der indigenen Völker der russischen Arktis zu bewahren. Mein Traum war es, alle arktischen Regionen Russlands zu besuchen, um die Kultur der dort lebenden indigenen Völker persönlich zu erleben. In jenen Jahren war ich davon überzeugt, dass wir bei RAIPON für den Schutz der Rechte und die Bewahrung der Identität der indigenen Völker Russlands und der Welt arbeiten. Ich war dort sehr aktiv, glaube ich.

Im Jahr 2020 «empfahl» die Vizepräsidentin von RAIPON, Nina Glebovna Veisalova, uns, für Putins Änderungen an der russischen Verfassung zu stimmen. Viele meiner Kollegen in der Öffentlichkeitsarbeit, indigene Jugendliche und Studierende waren empört darüber, dass uns vorgeschrieben wurde, wofür wir stimmen sollten.

Man sagte uns, dass es uns nützen würde, aber wir alle verstanden, dass dies nur dazu diente, dass Wladimir Putin für eine weitere Amtszeit gewählt werden konnte. Nach diesen Ereignissen wurde mir klar, dass es sich bei RAIPON um eine Quasi-Regierungsorganisation handelte, und ich wurde misstrauisch gegenüber ihren Führern und deren Aktivitäten.

Nina Glebovna drohte mir persönlich mit dem Gefängnis. Wie sich herausstellte, stehen die Leitung von RAIPON und das Institut der Völker des Nordens in enger Beziehung zueinander. Sie besprechen alles untereinander und berichten der Universität über politische Aktivisten, die indigene Studenten sind. Alle meine Kommilitonen, die den russischen Behörden kritisch gegenüberstanden, wurden von der RAIPON-Leitung psychologisch unter Druck gesetzt und mit Ausweisung, Beschäftigungsproblemen und sogar Gefängnis bedroht.

Die erste Verhaftung

Nach der Vergiftung des prominenten russischen Oppositionellen Alexej Nawalny im August 2020 kam ich endgültig zu dem Schluss, dass Russland einen politischen Wandel braucht. Wie viele Zehntausende von Russen ging ich im Januar 2021 zu den Straßenprotesten.

Im Februar 2021 wurde unser Jugendrat zu einer gemeinsamen Sitzung von RAIPON und dem Institut der Völker des Nordens einberufen. Wir wurden wegen unserer Teilnahme an der Kundgebung verwarnt. Außerdem wurden mir persönlich die Konsequenzen angedroht, weil ich auf Instagram einen Beitrag gepostet hatte, in dem zu der Kundgebung aufgerufen wurde. Ich wurde bedroht und gewarnt, dass ich von der Universität verwiesen oder von der Polizei verhaftet werden würde, und dass sie dafür sorgen würden, dass mich niemand einstellen oder sogar ins Gefängnis stecken würde. Das waren echte Drohungen, und ich habe RAIPON verlassen und meine sozialen Aktivitäten eingestellt.

Genug! – Der Krieg gegen die Ukraine

Als Russland in die Ukraine einmarschierte, konnte ich nicht umhin, erneut auf die Straße zu gehen und zu protestieren. Schon am nächsten Tag gingen wir mit meinen Studienfreunden in St. Petersburg auf die Straße, um gegen den Krieg in der Ukraine zu demonstrieren.

Bei der Kundgebung wurde ich festgenommen und auf die Polizeiwache gebracht.

Auf der Polizeiwache wurde mir gesagt, dass wir Demonstranten Feinde des Volkes seien und dass Putin die Polizei unterstütze und sie mit uns machen könne, was sie wolle. In der Polizeistation, in der ich war, beschimpfte uns die Polizei und ließ uns nicht trinken. Wir konnten auch nicht schlafen, da die Zellen der Polizeiwache überfüllt waren. Mein Freund brachte mir etwas zu essen, Wasser und Kleidung, aber sie ließen ihn nicht hinein und gaben es mir nicht. Sie ließen auch einen Anwalt einer Menschenrechtsorganisation, bei der wir unsere Verhaftung angezeigt hatten, nicht zu uns. Einige Jungs wurden geschlagen und der Krankenwagen wurde lange Zeit nicht zu ihnen gelassen, erst nach 5 Stunden im Käfig wurde der Krankenwagen gerufen.

Einen Tag später fand eine Gerichtsverhandlung statt, und ich wurde zu einer Geldstrafe verurteilt. Dann wurde ich ins Dekanat vorgeladen und gewarnt, dass ich vor die Konfliktkommission der Universität geladen wurde, um von der Universität verwiesen zu werden. Außerdem wurde mir gesagt, dass sie nach dem Ausschluss die Polizei einschalten würden, damit diese ein Strafverfahren gegen mich einleiten könne. Später fand ich auch heraus, dass sowohl die Universität als auch RAIPON ein Leumundszeugnis an die Polizei geschickt hatten, in dem ich in negativer Weise beschrieben wurde.

Flucht ins sichere Exil

Im März 2022 kam die Polizei plötzlich zu mir nach Hause und übergab mir einen “Amtlichen Warnhinweis zur Verhinderung von Straftaten”. Zu diesem Zeitpunkt war bereits bekannt, dass das russische Recht aufgrund des russischen Einmarsches in der Ukraine verschärft worden war und Verhaftungen bei Kundgebungen zu Strafverfahren führen.

Da ich um meine Sicherheit fürchtete, beschloss ich, Russland sofort zu verlassen. In Georgien können russische Staatsbürger ein Jahr Visa frei leben. Ich schätze mich glücklich, dass ich an der Grenze nicht festgenommen wurde, denn ich glaubte, es sei nur eine Frage der Zeit, bis ich wegen meiner Beteiligung an politischen Protesten strafrechtlich verfolgt würde.

Während meines Aufenthalts in Georgien habe ich versucht zu verstehen, wie man in der neuen Realität leben kann, wenn in Russland ein diktatorisches Regime herrscht. Ich bin Freiwilliger im Navalny-Hauptquartier geworden und mache dort Antikriegskampagnen. Ich nutze diese Gelegenheit, um Sie zu ermutigen, die Initiative “Nawalnys Liste 6000” in Betracht zu ziehen.

Außerdem hat mich die Exilorganisation International Committee of Indigenous Peoples of Russia eingeladen, dem Team der russischen indigenen Aktivisten im Exil beizutreten. Ich habe diese Einladung gerne angenommen, weil ich den indigenen Völkern der russischen Arktis helfen möchte.

Ich gebe auch die Hoffnung nicht auf, meine Ausbildung hier in Deutschland fortzusetzen. Derzeit arbeite ich mit dem Institut für Ethnologie der Universität Hamburg an einem Projekt zur Erhaltung der Tschuktschensprache.

Abschließend möchte ich noch einmal betonen, dass die Ukraine für Freiheit und Unabhängigkeit kämpft. Ich danke deshalb auch der deutschen Regierung für die Unterstützung des ukrainischen und russischen Volkes, das gegen Putins Regime kämpft.

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