Die unhaltbare Haltung der internationalen Gemeinschaft

Der UN-Bericht über die Menschenrechtsverletzungen Chinas gegenüber den Uigur*innen ist stärker als erwartet, meidet jedoch ein entscheidendes Wort: Genozid.

Ein Text von Jo Smith Finley, erschienen bei „The Conversation“ unter dem Titel „UN report on China’s abuse of Uyghurs is stronger than expected but missing a vital word: genocide“; Übersetzt von Leah Hemptenmacher

Foto: Ein Mitglied des Weltkongresses der Uiguren bei Protesten vor den Toren der Deutsch-Chinesischen Wirtschaftskonferenz Frankfurt, September 2022/GfbV

Der seit Langem erwartete UN-Bericht über die Menschenrechtsverletzungen im Uigurischen Autonomen Gebiet Xinjiang (Xinjiang Uyghur Autonomous Region/XUAR) wurde letzte Woche veröffentlicht und rief gemischte Reaktionen hervor.

Für einige – vornehmlich für die chinesische Regierung – ging der Bericht zu weit. Anderen ging er nicht weit genug.

Viele rechneten nicht damit, dass die Untersuchung der UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Michelle Bachelet zu den Menschenrechtsverletzungen an den Uigur*innen und anderen muslimischen Nationalitäten und Minderheiten überhaupt an die Öffentlichkeit kommen würde. Peking hatte einen Kraftakt aufgewendet, um den Bericht zu unterdrücken und seinen Inhalt zu beeinflussen.

Doch am 31. August, zehn Minuten bevor Bachelets Amtszeit als Hochkommissarin enden würde, war der Bericht endlich online.

In manchen Aspekten ist er überraschend stark, aber auch zweifellos schwach in anderen.

Ich forsche zu den Uigur*innen-Gemeinschaften und den Uigur*innen-Han-Beziehungen in Xinjiang bereits seit mehr als drei Jahrzehnten und habe dabei auch Exkursionen dorthin unternommen. Ich habe meine Sachverständigengutachten dem Uyghur Tribunal vorgelegt, einem unabhängigen Volkstribunal, das durch den ehemaligen Staatsanwalt für Kriegsverbrechen Sir Geoffrey Nice QC auf Drängen des Weltkongresses der Uiguren gegründet wurde. In seinem Urteil vom 9. Dezember 2021 stellte das Tribunal fest, dass gegen die uigurische Bevölkerung in Xinjiang ein Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Folter begangen wird.

Was der Bericht gut macht

Im UN-Bericht zeigt sich viel Starkes. Er gibt den Opfern eine Stimme, wie auch die Lagerüberlebende Zumret Dawut befindet. Sie beschreibt, wie sie beim Lesen in Tränen ausbrauch: „Ich fühlte, dass es Gerechtigkeit und Menschen auf der Welt gibt, die das kümmert.“*

Der Bericht stellt fest, dass rechtliche Erklärungen der chinesischen Regierung „eine ansonsten als persönliche Entscheidung eingeordnete Angelegenheit in Bezug auf religiöse Praktiken mit ‚Extremismus‘ gleichsetzt und ‚Extremismus‘ mit dem Phänomen von Terrorismus.“ Das hat laut Bericht den Effekt einer „signifikanten Ausweitung der Bandbreite von Verhalten, auf das mit der Absicht oder unter Vorwand der Terrorismusbekämpfung abgezielt werden kann.“ Das spiegelt auch die Erkenntnisse wissenschaftlicher Studien zur Krise in Xinjiang wider.

Der Bericht bestätigt außerdem eine umfangreiche, willkürliche und diskriminierende „Freiheitsentziehung“ von Mitgliedern der uigurischen und anderen vorwiegend muslimischen Gruppen in sogenannten VETC (vocational education and training centres), zumindest in den Jahren 2017-2019. Er kommt zu dem Schluss, dass dies „völkerrechtliche Verbrechen darstellen könnten, besonders Verbrechen gegen die Menschlichkeit“.

Die Verwendung von „könnte“ lasen manche in Ungläubigkeit. Nury Turkel, Vorsitzender der US Commission on International Religious Freedom, erklärte: ,,Das ist Völkermord, dies sind Verbrechen gegen die Menschlichkeit… hier geht es nicht um ‚vielleicht‘, das ist etwas, das bereits stattfindet.“

Was im Bericht nicht gesagt wird

Zudem gibt es ein augenfälliges Versäumnis. Der UN-Bericht unternimmt trotz zahlreicher Berichte, Forschungsartikel, Rechtsgutachten und Konferenzen zu diesem Thema keinen Versuch, die Vorwürfe gegen Peking wegen Völkermords nach den Kriterien der UN-Völkermordkonvention (1948) zu beurteilen.

Dies steht in hartem Gegensatz zum Uyghur Tribunal, welches feststellte, dass die Volksrepublik China ohne berechtigten Zweifel einen Völkermord gemäß Art. 2 lit. d der Völkermordkonvention begeht: Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind.

Es gibt eine Reihe von Gründen, warum das so sein könnte. Einer dieser Gründe ist, dass das Team des OHCHR [Anm.: Büro des Hohen Kommissars der Vereinten Nationen für Menschenrechte] den Bericht am Tag des 31. August noch umgeschrieben hat, um Peking entgegenzukommen, so die Nachrichtenseite Politico. Nach einem unbenannten Diplomaten, den Politico hier zitiert, wurde ein Abschnitt zu Zwangssterilisationen im Verlauf der letzten Stunden noch abgeschwächt, um keinen Anlass für Vorwürfe von Genozid zu bieten.

Doch es gibt wachsenden, wissenschaftlichen Konsens, dass Völkermord in diesem Fall die richtige Wortwahl ist.

Obwohl der UN-Bericht die Verbrechen nicht im Zusammenhang mit der Völkermordkonvention betrachtet, enthält er stichhaltige Beweise für Handlungen, die die Kriterien aus der Konvention erfüllen. Diese beinhalten die Festnahme und Inhaftierung führender Wissenschaftler*innen, Künstler*innen und Intellektueller, was laut Bericht eine „breit angelegte, schädliche Wirkung auf das Leben ihrer Gemeinschaft“ hat. Dies verstößt gegen Artikel 2 lit. c: „vorsätzliche Auferlegung von Lebensbedingungen für die Gruppe, die geeignet sind, ihre körperliche Zerstörung ganz oder teilweise herbeizuführen“.

Der Bericht stellt Beweise für Folter und geschlechterspezifische, sexuelle Gewalt vor. Dies verstößt gegen Artikel 2 lit. b: „Verursachung von schwerem körperlichem oder seelischem Schaden an Mitgliedern der Gruppe“. Es gibt außerdem Beweise für die Zerstörung religiöser und kultureller Stätten, welche somit Artikel 2 lit. c entsprechen.

Es zeigt sich zudem ein starker Rückgang der Geburtenrate und ein Anstieg von Sterilisierungen in mehrheitlich uigurischen Gebieten. Ein solcher Rückgang wurde in mehrheitlich von Han-Chines*innen bewohnten Gebieten nicht beobachtet. Das ist ein klarer Verstoß gegen Artikel 2 lit. d.: „Verhängung von Maßnahmen, die auf die Geburtenverhinderung innerhalb der Gruppe gerichtet sind“.

Es wird kein Bezug genommen auf die staatlichen und wissenschaftlichen Dokumente in China, die eine Politik der „Bevölkerungsoptimierung“ ausarbeiten und auf die Art und Weise wie dies über Zwangssterilisation und Geburtenverhinderung in Xinjiang vorgenommen wird.

Die Problematik der erzwungenen Trennung der Kinder von ihren Eltern erscheint (über einen kurzen Satz hinaus) auch nicht im Bericht. Das ist ein eindeutiger Bruch des Artikel 2 lit. e: „gewaltsame Überführung von Kindern der Gruppe in eine andere Gruppe“.

Eine letzte Schwäche betrifft die Zwangsarbeit, wobei der Bericht lediglich „Hinweise“ darauf findet, dass Arbeits- und Beschäftigungsprogramme „diskriminierend und Elemente von Zwang zu enthalten scheinen.“

Ein Wendepunkt?

Der UN-Bericht ist nichtsdestotrotz ein bedeutender Wendepunkt. Wie der Präsident des Weltkongresses der Uiguren Dolkun Isa es ausdrückte, ebnet der Bericht den Weg für „sinnvolles und konkretes Handeln der Mitgliedstaaten, UN-Gremien und der Wirtschaft… Verantwortlichkeit beginnt jetzt.“

Unglücklicherweise richten sich die meisten Empfehlungen des Berichts an die chinesische Regierung, welche darauf zumindest auf der internationalen Bühne mit Wut reagierte. Peking behauptet, die „sogenannten Vorschläge“ der Vereinten Nationen würden auf einem „Flickenwerk der Desinformation“ fußen und so beweisen, dass das OHCHR zum „Komplizen der Vereinigten Staaten und einigen westlichen Mächten gegen Entwicklungsländer geworden ist“.

Es gibt Beispiele aus anderen Fällen für unabhängige, internationale Mechanismen, die zu Menschenrechten berichten, inklusive UN-Untersuchungskommissionen, Fact-Finding- und Monitoring-Missionen sowie Organe zur Beweissicherung für den Fall künftiger, strafrechtlicher Ermittlungen.

Es könnte jedoch mit Blick auf Pekings Verbündete und seinen tiefen Einfluss im UN-Menschenrechtsrat ungenügend sein, sich auf die Vereinten Nationen allein zu verlassen.

Eine alternative Route stellt der Internationale Gerichtshof dar, wie das Uyghur Tribunal hervorhebt: „Es ist unglücklich, dass es keine Bemühungen durch diese Staaten [Staaten, die China beschuldigen einen Genozid in Xinjiang zu verüben] oder durch andere gab, um die Angelegenheit vom IGH behandeln zu lassen, wie es geschehen könnte, wenn ein Staat nur den Mut hätte, den Fall dort hinzubringen.“

Ein zweiter Weg wäre, Ermittlungen durch den Internationalen Strafgerichtshof gegen die Handlungen der Volksrepublik Chinas in Xinjiang einzuleiten in Reaktion auf die drei Beweisvorlagen durch Rodney Dixon QC, Rechtsanwalt aus dem Vereinigten Königreich.

Welcher Weg auch immer eingeschlagen wird, Nury Turkel hat Recht, wenn er sagt, dass die Haltung der internationalen Gemeinschaft nun „unhaltbar“ ist und dass der Bericht zu „tatsächlichem Handeln“ führen muss.

* Alle Zitate wurden wörtlich übersetzt aus dem Englischen.

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