Diskriminierung per Gesetz – die Geschichte des kanadischen Indian Act (2/2)

Im zweiten Teil geht es um die Auswirkungen des Indian Act und welchen Einfluss er bis heute hat. Das Gesetz wurde zwar seit seiner ursprünglichen Entstehung 1867 viele Male verändert (siehe Teil 1 der Blogreihe), aber bestimmt noch heute, wer in Kanada überhaupt offiziell als indigen gilt und wie die Selbstverwaltung der Reservate organisiert wird. Von vielen indigenen Vertreter*innen wird der Indian Act daher als koloniales Überbleibsel und staatliche Bevormundung kategorisch abgelehnt.

Von Theresa Luedtke und Maren Thiel, Recherche Dana Dramsch; Foto: Lorie Shaull | Flickr

Ihn ersatzlos zu streichen, wie 1969 von der Regierung Trudeau beabsichtigt, stieß jedoch  auf heftigen Widerstand, weil die First Nations damit ihren politischen Status als unabhängige Gemeinschaften gegenüber dem Staat verlieren würden[1].

Worüber bestimmt der Indian Act heute?

Die heutige Form des Indian Act ist in seinen Grundzügen in den Nachkriegsjahren entstanden. 1945 wurden alle Mitglieder der First Nations als offizielle Bürger Kanadas anerkannt – mit allen dazugehörigen politischen und sozialen Rechten. Außerdem wurde die politische Verantwortung für die First Nations zwischen der Föderalen Regierung und den Provinzen aufgeteilt. Während die Umsetzung der Wohlfahrtstaatsprogramme in den Reservaten zu Teilen auf die Provinzen übertragen wurde, blieb die politische Organisation der First Nations weiter in föderaler Hand. Dies hatte zum Ergebnis, dass der Lebensstandard in den indigenen Reservaten von Provinz zu Provinz bis heute sehr stark variiert und der Spielraum der politischen Mitbestimmung und Selbstverwaltung der First Nations nach wie vor von den übergeordneten föderalen Behörden bestimmt wird[2]. Konkret sieht der Indian Act vor, dass alle volljährigen und offiziell vom Staat anerkannten Mitglieder einer indigenen Gemeinschaft einen „chief“ (zu dt.: Häuptling) und mehrere sogenannte „band council members“ (zu dt.: Stammesrat Mitglieder) wählen. Der Chief und die Ratsmitglieder werden per Mehrheitswahl für jeweils 2 Jahre gewählt und repräsentieren ihre First Nation gegenüber dem Staat [3]. Der Rat und der Chief haben unter anderem die Aufgabe über die genaue Verwendung der Gelder mitzuentscheiden, die ihnen von der kanadischen Regierung für Bereiche wie Bildung, Gesundheit und Soziales zu Verfügung gestellt werden. Die Band Council Mitglieder und Chiefs können in der Praxis jedoch keine Entscheidungen treffen, die bestehendem kanadischem Recht widersprechen und sind finanziell auf eine enge Zusammenarbeit mit den zuständigen Regierungsbehörden angewiesen.

Dieses im Indian Act festgelegte Selbstverwaltungsmodell wird nach wie vor von den meisten First Nations in Kanada befolgt[4], aber auch aus unterschiedlichen Gründen scharf kritisiert. Viele indigene Vertreter*innen wünschen sich noch deutlich weitreichendere Mitbestimmungsrechte für die Chiefs und eine weniger starke Abhängigkeit von den Vorgaben der föderalen Behörden, um echte politische Unabhängigkeit zu ermöglichen.

Die Auswirkungen des Indian Acts auf die demokratische Selbstverwaltung der First Nations

Eine weitere Kritik richtet sich gegen die Organisationsweise der politischen Selbstverwaltung an sich. Denn viele First Nations Mitglieder wünschen sich mehr direkte Demokratie und Beteiligungsmöglichkeiten. Einige Wissenschaftler*innen und auch indigene Vertreter*innen kritisieren das Mehrheitswahlprinzip als Grundlage für die Auswahl des Kandidat*innen für den Chief-Posten und das Band Council[5].

Erstens widerspricht das Mehrheitswahlrecht häufig den traditionellen Formen der politischen Selbstorganisation, wie sie vor der Einführung des Indian Act von den First Nations praktiziert wurden. Viele der indigenen Gemeinschaften in Kanada hatten in der Vergangenheit eine sehr direkte Form der Demokratie, die entlang der Verwandtschaftsstruktur organisiert war. Für eine bindende Entscheidung brauchte es die Zustimmung aller Clan-Oberhäupter, die wiederum verantwortlich gegenüber all ihren Verwandschaftsmitgliedern waren und bei Unbeliebtheit ausgetauscht werden konnten. Daher war die Entscheidungsfindung konsensorientiert.

Zweitens birgt das im Indian Act vorgeschriebene Wahlsystem die Gefahr der Korruption und Vetternwirtschaft. Diese entsteht in den kleinen Reservaten schnell, vor allem wenn Chiefs durch die gezielte Verteilung von Ressourcen an ihre eigene Verwandtschaft  ihre Wiederwahl sichern wollen. Natürlich sind nicht alle Chiefs und Band Councils korrupt. Aber dadurch, dass eine der Hauptaufgaben des Chiefs und des Councils die Verteilung von öffentlichen Ämtern und Geldern ist und Ressourcen und Jobs in den Reservaten chronisch knapp sind, birgt das System an sich die Gefahr, dass diese bevorzugt an Verwandte und Freunde verteilt werden[6].

Anstöße und Hindernisse für Veränderung

Der Umgang mit diesem Problem variiert stark. Einige First Nations haben sich aufgrund der oben beschriebenen Problematik dafür eingesetzt, dass wieder mehr Elemente der traditionellen Demokratie eingeführt werden. Wie Andere, eine bessere Auswahl der Chief-Kandidat*innen auf Grundlage von Fähigkeiten und Erfahrungen.

Seit einer Reform im Jahr 2015 gibt es die Möglichkeit, dass die First Nations statt dem vom Indian Act vorgeschriebenen Selbstverwaltungssystem, eigene Regeln festschreiben dürfen. Dafür müssen jedoch vorher der bestehende Chief und die Council Mitglieder, der Abschaffung bzw. Umorganisierung ihrer eigenen Ämter zustimmen, da sie die einzigen sind, die innerhalb des bestehenden Systems legitimer Weise diese Entscheidung treffen können. Das stellt logischerweise ein Hindernis für Veränderungen dar, weil die aktuellen Amtsinhaber*innen nur ungern einen Teil ihrer Autorität abgeben oder ihren eigenen Job gefährden wollen. Außerdem sind politische Reformen bei vielen First Nations mit der Angst vor weiterem Autonomieverlust gegenüber der Regierung verknüpft.

Trotzdem sind einige First Nations seit der Einführung der Reform 2015 diesen Schritt gegangen und haben ihr Selbstverwaltungssystem verändert. Viele haben z.B. die Wahlperiode von Chief und Council von zwei auf vier Jahre verlängert, um mehr Zeit für langfristig angelegte Projekte zu haben und tiefgreifendere Veränderungen in den Reservaten zu ermöglichen [7]. Außerdem wurden teilweise verwandschaftsbasierte Wahlsysteme für die Auswahl des Chiefs wiedereingeführt oder zusätzliche Versammlungsgremien eingeführt, die in bestimmten Bereichen, wie Gesundheit und Soziales mitentscheiden dürfen[8].

Bleibende Unzufriedenheit

Die Reform wurde 2015 von der kanadischen Regierung unter anderem auch als Reaktion auf die Forderungen der sogenannten sogenannte „Idle no more“ – Bewegung (zu dt. in etwa: „Nicht mehr untätig“) erlassen, die 2013 landesweit für mehr Selbstbestimmung der First Nations und gegen die Ausbeutung von natürlichen Ressourcen in den Reservaten protestierte. Die Bewegung klagte gegen Regierungsentscheidungen vor Gericht. Das löste eine öffentliche Debatte über Umweltschutz, aber auch die politische Organisationsweise der First Nations aus[9].

Trotz der oben genannten Reformen gibt es nach wie vor viel Unzufriedenheit mit dem Indian Act. Denn egal, wie demokratisch das Selbstverwaltungssystem einer Gemeinschaft intern organisiert sein mag, bleiben die indigenen Entscheidungsträger*innen am Ende in vielen Bereichen abhängig vom Geld und den Vorschriften der Behörde für „Indigenous and Northern Affairs Canada“. Gerade der geringe Grad an Selbstbestimmung über die finanziellen Mittel und die schlechte wirtschaftliche Situation in den Reservaten macht es oft schwer wirkliche politische Veränderung herbeizuführen und das koloniale Erbe des Indian Acts abzuschütteln. Eine weitere Forderung der Bewegung ist es daher, indigenen Vertreter*innen mehr Mitspracherecht bei der Erstellung des Haushalts der Behörde zu geben und längere Finanzierungszeiträume für Sozialprogramme einzuführen[10] .

Fazit

Der Indian Act diente dem kanadischen Staat mehr als ein Jahrhundert zur Unterdrückung indigener Gemeinschaften. Er hat die Beziehung zwischen dem kanadischen Staat und den First Nations historisch tief geprägt und viel Misstrauen hinterlassen. Umso schwieriger sind die aktuelle Versuche indigener Akteure, demokratischere Formen der politischen Selbstverwaltung einzuführen und Teile des Indian Act zu reformieren. Viele First Nation Mitglieder sind so enttäuscht von den offiziellen Selbstverwaltungsstrukturen und staatlichen Institutionen, dass sie sich vermehrt außerhalb dieser Strukturen politisch organisieren und versuchen durch Social Media, Protesten auf Straßen oder Gerichtsprozessen ihre Rechte durchzusetzen.

QUELLEN

  • Wissenschaftliche Artikel:

1) Poucette, Terry Lynn. „Spinning wheels: Surmounting the Indian Act’s impact on traditional Indigenous governance.“ Canadian Public Administration 61.4 (2018): Seiten 499-522.

2) Morden, Michael. „Theorizing the resilience of the Indian Act.“ Canadian Public Administration 59.1 (2016): Seiten 113-133.

3) Milloy, John. „Indian Act Colonialism: A Century of Dishonour, 1869-1969.“ 2008: Seiten 12-21.

  • Websites:
  1. The Canadian Encyclopedia: https://www.thecanadianencyclopedia.ca/en/article/indian-act.
  2. Centre for First Nations Governance: https://fngovernance.org/.
  3. Offizielle Website de “Idle no more Bewegung”: https://idlenomore.ca/.

[1]The White Paper https://www.thecanadianencyclopedia.ca/en/article/the-white-paper-1969

[2] Milloy, J. „Indian Act colonialism: A century of dishonor, 1869–1969. Research paper for the National Centre for First Nations Governance. NCFNG. May 2008.“ (2008).

[3] Leadership selection in First Nations: https://www.sac-isc.gc.ca/eng/1323195944486/1565366893158.

[4] First Nations Electoral System Breakdown, by Province and Territory, in Canada: https://sac-isc.gc.ca/eng/1337794249355/1565361052618.

[5] Poucette, Terry Lynn. „Spinning wheels: Surmounting the Indian Act’s impact on traditional Indigenous governance.“ Canadian Public Administration 61.4 (2018): 499-522.

[6] Poucette, Terry Lynn. „Spinning wheels: Surmounting the Indian Act’s impact on traditional Indigenous governance.“ Canadian Public Administration 61.4 (2018): 515-518.

[7] Indian Act und Elected Chief and Band Council System: https://www.ictinc.ca/blog/indian-act-and-elected-chief-and-band-council-system.

[8]Center for First Nations Governance: https://fngovernance.org/transitional-governance-program/.

[9] Die Idle no more Bewegung und ihre Auswirkungen: https://www.thecanadianencyclopedia.ca/en/article/

idle-no-more

[10]Pressemitteilung „Idle no more“ Bewegung: https://idlenomore.ca/indigenous-networks-and-land-defenders-call-to-reject-bill-c-15/.

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