Ruanda: 28 Jahre später

Am 7. April kam die ruandische Bevölkerung zusammen. Es war der Beginn der Gedenkfeier für den Völkermord gegen die Tutsis in Ruanda im Jahre 1994. Das Foto ist von einem Monument in Kigali. Es ist eine Hand, die die Wichtigkeit symbolisiert, Korruption und Verbrechen zu bekämpfen.

Von Megan Woo; Foto: Unsplash.com//Reagan M.

Die Gedenkfeier für den Völkermord in Ruanda

Die jährliche Gedenkfeier beginnt am Jubiläum des Tages, an dem die 100 Tage der Verstümmelungen, Vergewaltigungen und Tötungen begannen. Die Gedenkfeier dauert demnach auch 100 Tage, während derer Ruanda sich an die unfassbare Gewalt erinnert, die die Hutus gegen die Tutsis anwandten, und um die Opfer trauert. Ein weiterer Zweck soll sein, solch eine Tragödie nie wieder passieren zu lassen.

Für Ruanda gehört dazu die Wichtigkeit der Anerkennung und Aufklärung des Völkermordes. Leugnung sei die zehnte und letzte Stufe eines Völkermordes; daher müssen die Geschehnisse anerkannt werden. Die Bevölkerung führte den Völkermord durch; daher soll die Bevölkerung jetzt sensibilisiert werden, um solche Gräueltaten in der Zukunft zu verhindern. 

Diese Aufklärung ist Ruanda heutzutage besonders wichtig. Obwohl der Völkermord noch frisch im Gedächtnis des Landes verankert ist, haben die 28 dazwischenliegenden Jahre dafür gesorgt, dass es jetzt eine neue Generation gibt, die den Völkermord nicht selbst erfahren hat. Die Gedenkfeier ist daher eine der Möglichkeiten, um die neue Generation dahingehend zu informieren und aufzuklären. Laut der ruandischen Regierung sind die Schwerpunkte der Gedenkfeier dieses Jahr, sich an die Gräueltaten zu erinnern, über die Folgen des Völkermordes nachzudenken, sich gegen Völkermord-Ideologien und Leugnung zu vereinen, einen potenziellen zukünftigen Völkermord zu verhindern, Justiz zu fördern und gegen Straflosigkeit zu kämpfen.   

Was aber fehlt: die Anerkennung der Vorwürfe, dass auch gegen die Hutus systematische Gräueltaten begangen wurde.

Der Bericht der UN und die ruandische Reaktion 

Im Jahre 2005 wurden drei Massengräber im Osten der Demokratischen Republik Kongo (DRK) entdeckt. Die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Louise Arbour leitete daraufhin eine Untersuchung mit dem Ziel ein, schwerste Menschenrechtsverletzungen und Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht in der DRK durch die Armee Ruandas zwischen März 1993 und Juni 2003 abzuschätzen und zu dokumentieren. 

Das Ergebnis war ein 550-seitiger Bericht, der auf 617 Fälle von möglichen Menschenrechtsverletzungen und/oder Verletzungen des humanitären Völkerrechts verwies. Unter anderem beinhaltet der Bericht Vergewaltigungsvorwürfe sowie Vorwürfe systematischer Massaker, denen Hutus zum Opfer gefallen sind. 

Der Bericht verdeutlicht, dass er keine Berechtigung habe, die Gewalt einer offiziellen Bezeichnung zuzuordnen. Ob es sich um einen Völkermord gehandelt hat oder nicht, könnte jedoch nur ein Gericht entscheiden. Diesbezüglich schreiben die Verfasser*innen folgendes: “The apparently systematic and widespread nature of the attacks, which targeted very large numbers of Rwandan Hutu refugees and members of the Hutu civilian population, resulting in their death, reveal a number of damning elements that, if they were proven before a competent court, could be classified as crimes of genocide.” Dennoch weist der Bericht darauf hin, dass es sich um Kriegsverbrechen und schwerste Verbrechen gegen die Menschlichkeit handelt.

Die ruandische Delegation der Vereinten Nationen in Genf kommentierte den Bericht in Form eines 30-seitigen Dokuments: der UN-Bericht sei mangelhaft und ein Versuch, die Geschichte umzuschreiben. Zudem wurde davor gewarnt, dass der UN-Bericht den Frieden bedrohen könnte, indem die Schuld des Völkermordes falsch verteilt werden würde. 

Begrenzte Meinungsfreiheit und Pressefreiheit

Das ruandische Gesetz N°18/2008 befasst sich mit dem Verbrechen der “genocide ideology” (Dt.: “Völkermord-Ideologie”).  Obwohl es aus nachvollziehbaren Gründen geschaffen wurde, wird es jetzt auch dazu verwendet, die Opposition zu verfolgen. Laut dem Gesetz beinhaltet das Verbrechen der Völkermord-Ideologie unter anderem ,,creating confusion aiming at negating the genocide which occured” und ,,stirring up ill feelings.” Darunter versteht die ruandische Regierung wohl auch Kritik gegen sich selbst—wie zum Beispiel die Vorwürfe in dem UN-Bericht. Die Regierung scheint Kritik somit als eine Bedrohung für den Frieden im Land zu betrachten. Daher können entgegengesetzte Meinungen wohl auf Basis der Völkermord-Ideologie verfolgt werden. Anders gesagt: man darf die Vorwürfe und ihre Wirkungen nicht öffentlich diskutieren, ohne ein Feind des Staates zu werden. 

Amnesty International berichtete bereits 2019 davon, dass die ruandische Regierung Meinungsfreiheit einschränkt. In dem Bericht,,Amnesty International Report 2021/22: The State of the World’s Human Rights” beschreibt Amnesty International Fälle von Verletzungen der justiziellen Rechte und Pressefreiheit an denjenigen, die die Regierung kritisieren. Demselben Dokument zufolge wende die Regierung auch Folter und gezieltes Verschwindenlassen gegen ihre Opposition an. Human Rights Watch erhob ebenfalls diesbezügliche Vorwürfe und fügte hinzu, dass justizielle Autoritäten in Ruanda bei Prozessen in den Jahren 2020 und 2021 gegen politisch Verfolgte “a culture of intolerance of dissent” etabliert hätten.  

Wichtigkeit der Anerkennung der Dualität

Darüber hinausgehend, was dies für die Meinungsfreiheit in Ruanda bedeutet, gibt es auch Implikationen für das grundlegende Ziel der ruandischen Regierung: die Prävention eines weiteren Völkermords. 

Wie die ruandische Regierung so oft betont, spielen Anerkennung und Aufklärung dabei eine wichtige Rolle. Leugnung muss entgegengetreten werden, um dadurch etwaige Völkermorde in der Zukunft zu verhindern. Aus diesem Grund ist es auch so wichtig, dass die ruandische Regierung die Vorwürfe und die Kritik ernst nimmt. Anstatt die Forderungen in dem UN-Bericht abzulehnen und die Diskussion der Vorwürfe zu kriminalisieren, sollte Ruanda sich näher damit auseinandersetzen. 

Sollte der UN-Bericht tatsächlich, wie die Vertretung der ruandischen Regierung annimmt, mangelhaft sein, könnten weitere Diskussionen oder eine zweite Untersuchung die Vorwürfe vielleicht aufklären. Entspricht der UN-Bericht der Wahrheit, wäre es umso wichtiger, dass die ruandische Regierung offen bleibt. Die Anerkennung der begangenen Verbrechen gegenüber den Hutu ist ebenso wichtig wie die Anerkennung des Völkermordes an den Tutsi in Ruanda 1994. 

Aufgrund der derzeitigen politischen Lage würde diese Anerkennung heutzutage allerdings bestraft werden. Das kommt daher, dass die Regierung solch eine Anerkennung als ein Verstoß gegen das Völkermord-Ideologie-Gesetz in Ruanda interpretieren würde. Das Thema sollte aber keinesfalls tabu sein. Die Anerkennung eines potenziellen zweiten Völkermordes würde nicht bedeuten, dass es keinen Völkermord gegen die Tutsis gegeben hätte oder dass die Schwere der Gräueltaten, die an den Tutsis begangen wurden, dadurch abgeschwächt werden würde. Zudem würde es der derzeitigen Regierung Ruandas nicht abgesprochen werden, einen maßgeblichen Beitrag dazu geleistet zu haben, den Völkermord an den Tutsis zu beenden. Selbst falls ein Völkermord gegen die Hutus begangen wurde, würde es noch immer stimmen, dass Ruanda Frieden gefördert, ehemalige Täter*innen und Überlebende in die Gesellschaft integriert, sich wieder aufgebaut und somit alle Erwartungen überschritten hat. Diese Dualität kann existieren. 

Die Gedenkfeier der ruandischen Bevölkerung sensibilisiert die neue Generation und erinnert daran, wie Ruanda im Jahre 1994 am Boden lag. 28 Jahre später hat sich Ruanda wieder aufgebaut. Sowohl der Wiederaufbau als auch der Einsatz für den Frieden gehen noch immer weiter. Das kollektive Gedächtnis prägt Ruanda, und die Wahrheit der Geschichte ist oft nicht einfach. Alles kann gleichzeitig wahr sein, und deshalb sollte die ruandische Regierung für Kritik, Diskussion, Aufklärung und Anerkennung offen sein. Das ist es, was es brauchen würde, um die Geschehnisse der Vergangenheit aufzuarbeiten.

Quellen: OHCHR | DRC: Mapping human rights violations 1993-2003, Ruanda 2019 | Amnesty Report 2019, Microsoft Word – FINAL Comments on the UN report [SUBMITTED NY GENEVA].doc (ohchr.org), Amnesty International Report 2021/22, Rwanda: Wave of Free Speech Prosecutions | Human Rights Watch (hrw.org), 28th Commemoration of the 1994 Genocide against the Tutsi – Kwibuka28 | Remarks by President Kagame | 7 April 2022 – Paul Kagame

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