Ich bin – und so spreche ich 

Die Kindheit unserer Autorin war türkisch geprägt. Erst als sie begann, die kurdische Sprache zu lernen, fing sie auch an, ihre kurdische Identität zu verstehen – eine Identität, die wie die Sprache geprägt ist von Vielfalt, Verzweigungen und Widersprüchen.

Von Medine Yilmaz; Foto: GfbV-Archiv

Sprache und Sein-Dürfen

Ich bin Kurdin – aber meine Muttersprache ist Türkisch. Und ein bisschen auch Kurdisch. So viel, wie halt möglich war und ich möglich machte. Das klingt verwirrend? Lasst es mich von vorn erklären.

Meine Eltern wurden in kurdische Dörfer der Türkei hineingeboren. Aber dort war Kurdisch verboten. In den frühen Jahren ihrer Kindheit zogen sie mit ihren Familien in die Stadt. Dort waren sie nicht mehr nur von Kurden umgeben. Doch dafür kontrollierten hier keine Staatsbeamte, dass kein Kurdisch gesprochen wurde. Vielmehr waren es die türkischen Nachbarn, die einforderten, dass alle ausschließlich Türkisch sprachen. Wären meine Eltern damals 300 Kilometer weiter in eine andere Stadt – nach Diyarbakir – gezogen, hätten sie eine ganz andere sprachliche Verwurzelung erfahren. In Diyarbakir leben fast ausschließlich Kurden, die bis heute sehr gut Kurdisch sprechen. 

Nun, diese (Fehl-)Entwicklung unserer Eltern bekamen wir als Kinder, die in Deutschland geboren wurden, auch zu spüren. Ich bin in einer Straße in Berlin-Wedding aufgewachsen, der Prinz-Eugen-Straße, in der überwiegend Türken gewohnt haben. Im Grunde haben wir – wenngleich mitten in der Metropole – in unserer ganz eigenen, sehr kleinen Blase gelebt. Mein Leben bewegte sich zwischen der Prinz-Eugen-Straße, der Grund- oder Oberschule, der Koranschule und vor allem unserer Einzimmerwohnung. Hier erhielt unsere fünfköpfige Familie häufig Besuch anderer kurdischer Gastarbeiterfamilien. Im Rückblick sehe ich, dass in diesem Wohnzimmer oft die einzige soziale Aktivität stattfand, die viele Gastarbeiterfamilien hatten.

Bild: Unsere Autorin im Alter von etwa 13 Jahren zusammen mit ihrem Vater. Sie sind auf dem Weg in die Türkei und machen Pause auf einem Rastplatz.
Foto: © Medine Yilmaz

Diese kleine Blase barg trotz ihrer Überschaubarkeit unglaublich große Divergenzen – allein schon rein sprachlicher Natur. Denn wenn meine Eltern auf der Prinz-Eugen-Straße Kurdisch sprachen, wurden sie von unseren türkischen Nachbarn ausgelacht. Redeten sie dreihundert Meter weiter in der Müllerstraße Türkisch oder Kurdisch, wurden sie von Deutschen aufgefordert, gefälligst Deutsch zu sprechen.

Und ich, als Tochter eines konservativen Imams, durfte mich oft in keiner der drei Sprachen artikulieren. Ich hatte nicht zu klagen oder gar zu widersprechen, wenn ich anders behandelt wurde als meine Brüder. Die genossen Privilegien, nur weil sie Männer waren. Als Frau musste ich in jungen Jahren lernen, in bestimmten Situationen nicht den Mund aufzumachen, ich hatte zu schweigen. Der weibliche Teil von mir hat seither viel gekämpft und kann heute ein selbstbestimmtes Leben führen. Aber der kurdische Teil meiner Identität leidet noch immer.

Eine Kindheit in Berlin – türkisch geprägt

Medine Yilmaz heute
Foto: © Medine Yilmaz

Unsere Eltern sprachen mit uns nur Türkisch. Wenn sie heimlich etwas bereden wollten, sprachen sie Kurdisch. Doch weil sie wegen des Sprachverbots nie eine kurdische Sprach- oder Grundschule besucht hatten, war ihr Wortschatz nur noch bruchstückhaft und immer wieder mischten sich türkische Wörter mit hinein. Deshalb konnte ich mir immer irgendwie herleiten, worum es gerade ging.

Aber zurück zu uns Kindern in Europa: In der Koranschule wurde viel Türkisch gesprochen. In der Grund- und Oberschule war Türkisch dominant. Mein Bruder hatte sogar in seinen sechs Grundschuljahren ausschließlich türkischsprachige Mitschülerinnen und Mitschüler. Der einzige Deutsche unter ihnen war der Klassenlehrer, Herr Rot. Zurück von der Schule liefen zu Hause pausenlos türkische Kanäle über die riesige Satellitenschüssel, die uns den Platz auf dem Balkon versperrte. Mein Kindheitsalltag in Berlin war türkisch geprägt. Nicht nur der Zugang zum Kurdischen war für uns Kinder beschränkt. Auch die deutsche Sprache war oft weit weg.  

Ausnahmen, die kurdische Traditionen lebendig werden ließen, waren zum Beispiel Hochzeiten. Auf vielen wurde ausschließlich kurdische Musik gespielt und dazu Folklore getanzt. Hier gehörte es dazu, Kurdisch zu hören und zu präsentieren. Aber es führte dazu, dass türkische Nachbarn den Hochzeitssaal verließen. Das musste man ertragen. Doch es gab auch nicht wenige Kurden, die auf kurdische Musik verzichteten, um den Konflikt mit den türkischen Nachbarn zu meiden.  

Für uns war es etwas Besonderes, überhaupt Kassetten mit kurdischer Musik zu besitzen. In der Türkei wurden sie damals – anders als heute – vernichtet. Anhänger der Arbeiterpartei Kurdistans hatten es unter anderem ermöglicht, dass kurdische Musikkassetten in Deutschland erworben werden können. Sie waren es auch, die um das Jahr 1995 herum – ich war damals Teenagerin – dafür sorgten, dass wir über diese riesige Schüssel auf dem Balkon kurdisches Fernsehen im Wohnzimmer hatten. Das war MED-TV. Mein Vater genoss diese Neuerung. Obwohl er Zeit seines Lebens gegen die Arbeiterpartei Kurdistans wetterte, liebte er es, ihre Propagandalieder zu hören. Weil sie auf Kurdisch waren. Also auch Papa lebte mit sehr vielen Widersprüchen. 

Wenn wir in die Türkei fuhren – und die Reise dauerte mindestens vier bis fünf Tage – hatte Papa im Auto nur eine oder zwei Kassetten, die wir immer wieder hörten. Vor allem das Lied „Militan Militan Kurdistan“  – ganz einfach zu übersetzen mit zwei t`s am Ende: „Militant Militant Kurdistan“  – war unser Lieblingslied. Als Kinder und Jugendliche sangen und tanzten wir dazu, ohne darüber nachzudenken, wofür dieses Lied produziert wurde und was für eine Tragik sich dahinter verbarg. Gesprochen haben unsere Eltern hierüber nie mit uns.

Erst als ich ungefähr 15 Jahre alt war, wurden mir durch ein einschneidendes Erlebnis die Augen geöffnet: Bei einem Familienbesuch in der Türkei erlebte ich, wie mein Opa, der kein Wort Türkisch beherrschte, von einem Offizier aufgefordert wurde, Türkisch zu sprechen. Als mein Opa auf Kurdisch erklärte, dass er das nicht könne, schlug ihn der Offizier. Ich wollte schreien, doch mein Vater hielt mir mit seiner Hand den Mund zu. Dieser entwürdigende Moment politisierte mich. Ich begann alles zu hinterfragen und wollte endlich Kurdisch lernen. Denn in Deutschland bestand – trotz aller Einschränkungen in meiner Kindheit – die Möglichkeit, frei zu sprechen.

Dem Kurdischen auf der Spur

Mit fast 18 Jahren verschlug es mich von Berlin an den Niederrhein. Hier lebte ich unter yezidischen Kurden, die kein Wort Türkisch und teilweise auch kein Deutsch konnten. Ich war gezwungen, Kurdisch zu lernen. Vor allem Onkel Emin brachte mir vieles bei. Darüber hinaus recherchierte ich viel und in unterschiedlichen Quellen. Ich hatte erkannt, dass diese Sprache zu meiner Identität gehört und wollte sie beherrschen.

Doch selbst heute noch bereiten mir als Konferenzdolmetscherin einige – oft ganz simple – kurdische Wörter Probleme. Auch das richtige Lesen und Betonen von Texten fällt mir nicht leicht. Belastend für mich ist darüber hinaus die Diskussion unter den Kurden selbst. Sie machen sich gegenseitig Vorwürfe, dass sie entweder türkisiert oder arabisiert seien. Ich habe von nicht wenigen Kurden aus Syrien oder dem Irak Kritik dafür ernten müssen, dass ich mit meinem Mann Türkisch spreche. Oft wird den Kurden in der Türkei vorgeworfen, nur Türkisch zu sprechen. Diese wiederum kritisieren die ihrer Ansicht nach zu arabisierten Kurden aus den Ländern Syrien oder Irak und die zu vielen arabischen Wörter, die diese in ihr Kurdisch übernommen hätten.

Obendrein ist es rein sprachlich schwer, sich zwischen den verschiedenen kurdischen Gruppen zu verständigen. Denn selbst innerhalb eines kurdischen Dialektes gibt es oft viele Unterschiede. Allein das Wort „sprechen” hat sehr viele Bedeutungen, unter anderem „axaftin” und „peyivîn” (diese Übersetzungen findet man im Wörterbuch). Darüber hinaus werden aber auch unzählige andere Wörter dafür verwendet, wie zum Beispiel „gisedan” oder „şore kirin”. Das heißt, ich muss manchmal vor einer Unterhaltung klären, welches Wort mein Gesprächspartner jeweils verwendet, um Verständigung zu gewährleisten.

Am schwierigsten ist der Dialog mit Menschen, die für sich beanspruchen, Hochkurdisch zu sprechen. Sie erklären mir stundenlang, dass ihr Kurdisch das Kurdisch schlechthin sei und alle anderen Verwendungen falsch seien. Dann gibt es auch noch Personen, die einen zwingen wollen, Kurdisch zu sprechen. Das ist sicher hilfreich, um Kurdisch zu lernen, aber manchen ist es eben unangenehm.  

Auf meinem Weg zu meinen kurdischen Wurzeln ist die Sprache ein Leitfaden. An ihr ist mir deutlich geworden, wie verzweigt, vielseitig und manchmal widersprüchlich das Kurdisch-Sein sein kann. Nachdem wir über Jahrzehnte üben mussten, die kurdische Sprache zu verstecken und wie einen verbotenen Schatz zu hüten, fällt es jetzt vielen schwer, sie zu teilen und in ihrer Vielseitigkeit wertzuschätzen. Das sollten wir nicht wegdiskutieren, sondern im Austausch leben und pflegen. Denn im Reden erkennen wir unser Sein.

Aus unserer Zeitschrift „Für Vielfalt“ Ausgabe 1/22 zum Thema Sprache(n)

Über die Autorin:

Medine Yilmaz ist Absolventin der Staatswissenschaften im Bachelor und Master. Hauptberuflich arbeitet sie als Konferenzdolmetscherin und betreibt in der Erfurter Innenstadt ein kurdisches Restaurant.

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